CD PAUL HINDEMITH „MAINZER UMZUG“ – Philharmonisches Staatsorchester Mainz, LandesJugendChor Rheinland-Pfalz; cpo
„Juchhei! Heut sind wir maskenfrei, und ziehen munter die Große Bleich hinunter. Und wer noch lebt und wer schon tot, das weiß man erst, das weiß man erst ums Morgenrot. Tschidibum, Tschidibum, Tschidibum.“ Carl Zuckmayer Aus dem „Mainzer Umzug“
Die Mainzer Fastnacht 2021 findet heuer vom 11. bis 17. Februar 2021 statt. Aber wegen der Corona-Pandemie fällt die Sitzungs- und Straßenfastnacht in der Session 2021 fast ganz aus. Klassische Sitzungen oder Partys gibt es ebenso wenig wie traditionelle Fastnachtszüge. Dennoch gilt das Motto: „Trotz Corona segelt heiter, das Narrenschiff voll Hoffnung weiter!“, aber 2020 eben nur im Internet. Online-Sitzungen der Vereine, das Streaming von Büttenreden und Gesang mit einer Online-Weinprobe. Traurige Sache, würde ich sagen. Eigentlich sollen die Jecken oder Hofnarren in der fünften Jahreszeit unter dem Geschunkele des Publikums die Fettnäpfchen von Prominenten aller Art gehörig aufs Korn nehmen. Stoff dafür gäbe es wahrlich genug…
Natürlich keinen Ersatz, aber doch eine erstmals auf CD verfügbare musikalische Rarität der Mainzer Fastnacht bringt der Verlag cpo ins Treffen: Paul Hindemiths „Mainzer Umzug“ für drei Singstimmen, Chor und Orchester aus dem Jahr 1962. Aus Anlass der Feiern zum 2000-jährigen Jubiläum des Römerkastells Mogontiacum beauftragte die Stadt Mainz den Nackenheimer Carl Zuckmayer und den Hanauer Paul Hindemith mit einem Chorwerk. Heraus kam laut Hindemith „eine Art theatralischer Szene, ohne Kostüme und Dekorationen, wo drei singende Darsteller Zeugen eines großen historischen Umzugs sind, der vor ihren Augen, also im Publikum, vorüberzieht. Sie diskutieren und erläutern, was sie da sehen. Die Bemerkungen des Tenors und Soprans sind im Mainzer Dialekt, der Bariton singt nur hochdeutsch.“
Die Entstehungsgeschichte ist einigermaßen skurril und verworren. Sie wird von Eckhardt van den Hoogen im Booklet-Aufsatz „Dichter und Erbauer – oder zwei reifere Herrn ziehen um“ anschaulich unter Hinweis auf den Briefwechsel, editiert 1998 St. Ingbert, geschildert. Auf jeden Fall ist der Text von Zuckmayer besser, deftiger und witziger als die Musik Hindemiths. Kostprobe gefällig?
Böppche: „Do kimmt ääner, ganz mit Blut beschmiert.“ Pronobis: „Arnold, der zuviel Steuern nahm; den haben die Mainzer massakriert.“ Böppche: „Wie sin dagege mir doch zivilisiert! ÄÄner, wo heut zuviel Steuern nimmt, dem wird kää Hoor gekrimmt.“
Hindemith legt zwar kontrapunktische Kunstfertigkeit in die Chöre, lange Passagen des Texts von Böppche und Schöppche lässt er hingegen trocken melodramatisch zitieren, lediglich kammermusikalisch karg unterlegt. Der „Mainzer Umzug“ klingt so über weite Strecken wie ein Lehrbuch in Kompositionskunde, herb und unsinnlich, im Endeffekt akademisch langweilig.
Die Uraufführung am Städtischen Theater in Mainz war mit Anny Schlemm (Böppche), Josef Traxel (Schöppche) und Hubert Hofmann (Pronobis) prominent und gleichzeitig des Dialekts wegen mit aus der Region stammenden Künstlern besetzt. Schlemm und Traxel kamen auch bei Aufführungen im Oktober 1962 und später im Jänner 1963 im Sendesaal des Wiener Funkhauses bzw. in der Berliner Musikhochschule zum Einsatz, allerdings war der Pronobis dann Hans Braun bzw. Thomas Stewart.
Auf der vorliegenden Aufnahme singen die lyrische Koloratursopranistin Marie-Christine Haase die „Böppche“ und der Wiesbadener Wagner-geeichte Tenor Alexander Spemann den „Schöppche“. Michael Dahmen, seit 2018/2019 Ensemblemitglied des Staatstheaters Mainz übernahm die Baritonrolle des Pronobis. Hermann Bäumer dirigiert das Philharmonische Staatsorchester Mainz und den LandesJungendChor Rheinland-Pfalz. Sie holen das Beste aus der Vorlage, können aber auch keine Wunder bewirken.
Neben diesem dem genius loci verbundenen „Mainzer Umzug“ sind auf dem Album die meisterlichen „Sinfonischen Metamorphosen“ nach Themen von Carl Maria von Weber und das Vorspiel zum Requiem „Als jüngst der Flieder mir im Garten blüht“ zu hören.
Die „Sinfonischen Metamorphosen“ haben all das an Witz und Leichtigkeit, was dem „Mainzer Umzug“ so eklatant abgeht. Hier kommen der blitzende Humor, die ausgelassene und übermütig wirbelnde Ironie von Hindemith voll zum Tragen. Vier Themen aus dem Schaffen Carl Maria von Webers dienten als Inspirationsquellen: Die Stücke Nr. 4 und Nr. 7 aus dem für Klavier vierhändig verfassten Op. 60 für die Ecksätze. Für das Scherzo wählte Hindemith die Ouvertüre zum Schauspiel „Turandot“ und für das Andantino das zweite der sechs „Pièces faciles“ Op. 10 als Vorlagen.
Wir stellen uns Hindemith beim Schreiben der Metamorphosen als zauberstabschwingenden Zampano vor, der die Puppen in alle Richtungen tanzen lässt. Eine leichtfüßige Virtuosität im Bläsersatz und flotte Tanzrhythmen mischen sich zu einem grandiosen Panorama, einer orchestralen Versuchsanordnung, die verwegen und verspielt, temporeich und keck zugleich wirkt. Die Musik scheint immer das Ohrenfällige und ihr Gegenteil zu sein, die Hymne und die trunkene Straßenmusik, der unbeschwerte Überschwang und der kleine Spott. Wir wollen es froh sein und uns so gekonnt auf den Arm nehmen lassen. Hindemith als feuerspeiender Jahrmarktfakir – wer hätte das gedacht?
Dr. Ingobert Waltenberger