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CD NIKOLAUS MATTHES: MARKUSPASSION – Weltersteinspielung; resonando

10.03.2024 | Allgemein, cd

CD NIKOLAUS MATTHES: MARKUSPASSION – Weltersteinspielung; resonando

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Ostern naht und die Passionsmusiken haben wieder Konjunktur. Im März 2023 war mit der Uraufführung der „Markuspassion“ die erste barocke Gesamtneuvertonung des Textes von Christian Friedrich Henrici (=Picander) von 1731 zu hören. Über dieses außerordentliche Ereignis, das nun auf Tonträgern erhältlich ist, gilt es nun zu berichten. Wer die Passionen Bachs liebt und verschiedene Interpretationen im Regal stehen hat, sollte sich dieses neue Album nicht entgehen lassen.

Man kommt aus dem Staunen nicht heraus: Nikolaus Matthes‘ Markuspassion klingt bei oberflächlichem Hören über weite Strecken der Rezitative, Arien, Chöre und Choräle, als wäre sie von Johann Sebastian Bach höchstpersönlich geschrieben worden. Die reiche Instrumentierung (Streicher, Flöten, Horn, Laute und Barockgitarre, Cembalo, Orgel, Fagott, Gamben, Violen, Kontrafagott) und romantische Harmonien machen jedoch u.a.  rasch klar, dass da etwas anderes im Busch liegt.

Die Geschichte der Musik ist auch eine der Verluste, der zerstörten oder anderweitig spurlos verschwundenen Werke. So ist etwa von der am Karfreitag, dem 23. März 1731 in Leipzig erklungenen „Paßionsmusik nach dem Evangelisten Marco“ nichts überliefert. Es ist nicht einmal bekannt, ob der Thomaskantor oder jemand anderer damals (mit einer Wiederholung 1744) eine Originalkomposition oder ein Pasticcio aufführen ließ. Musikologen und Forscher stützen sich bisher auf die These, dass Bach den Text vertont und bereits vorhandene Musik mit ähnlicher Thematik und vergleichbaren Reim- und Sprachschemata wiederverwendet hätte. Der in Basel lebende deutsch-schweizerischer Musiker, Komponist, Regisseur und Tonmeister Nikolaus Matthes meint in seinem umfangreichen Beitrag im 176 Seiten starken CD-Buch, dass all diese Versuche rein hypothetisch blieben, daher habe er mit dem „Instrumentarium und den musikalischen wie auch stilistischen Mitteln der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein zeitgenössisches Werk in barockem Stil geschrieben.“ Und mit sorgfältig gewählten Zitaten durchsetzt. Erste Teile der Komposition entstanden im Frühling und Sommer 2019; an Weihnachten 2019 wurde die Arbeit an der Musik wieder aufgenommen und zu Ostern 2020 abgeschlossen.

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Foto: Bettina Brotbek

Das Ergebnis ist so ungewöhnlich wie vom ersten Ton an ansprechend, ja mitreißend. Pius Strassmann: „Das polyphone Geschehen, beim ersten Hören ganz im Stile Bachs, weist weit über diesen hinaus und eröffnet Momente, die durch enharmonische Verwandlungen, äußerste Intensität der Modulationen und die Häufigkeit von Trugschlüssen und anderen ‚Verückt-heiten‘ weit über Bach hinausweisen, das Werk immer wieder auch als zeitgenössisches kenntlich machen“. Natürlich ließe sich trefflich über Fragen von Anachronismus, historisch verklärtem Kitsch, Dichtung und Wahrheit streiten. Oder aber man nimmt diese Passion als das, was sie ist: Ein geglückter Versuch, der emotional packt und knapp drei Stunden herrlichste Musik beschert.

Formal herrscht eine klare Symmetrie: Die beiden Teile enthalten gleich viel Musiknummern mit gleich vielen Arien (jeweils vier) und Chorälen (jeweils acht). Für jede Stimmlage hat Matthes zwei Arien komponiert, jeweils eine mit Soloinstrumenten, und die andere mit größerer Orchesterbesetzung. Im Unterschied zu den beiden großen Passionsmusiken von Johann Sebastian Bach enthält der Text keine Ariosi und das Hintereinander von Evangelium, Chorälen und Arien ist nicht von instrumentalen Zwischenspielen unterbrochen.

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Foto: Bettina Brotbek

Besetzung: Er gibt zwei Evangelisten (Daniel Johannsen, Georg Poplutz), der „für eine Seele schwer zu vermittelnde Stoff wird mit zwei verschiedenen Stimmen und Stimmungen“ erlebbar gemacht. Dazu Jesus (Daniel Pérez), ein Arien-Solistenquintett (Maya Boog Sopran, Annekathrin Laabs Alt, Daniel Johannsen, Georg Poplutz Tenor, Matthias Helm Bariton), Judas (Luis Neiva), Petrus (Matthias Helm), Pontifex (Breno Quinderé), Ancilla (Maria Pujades Seguí), Pilatus (Damiano Capelli), Miles (Michael Schwarze) und einen Centurio (Tiago Oliveira).

Das ad hoc Orchester und der Chor, beide erstklassig, werden vom Komponisten höchst animiert und in einem organisch aufeinander abgestimmten Ganzen selbst geleitet. Besonders der siebzehnköpfige Chor (einige Solisten inklusive) vollbringt Wunder an polyphoner Präzision und expressiver Gestik. Hören Sie sich die Chöre „Wir haben gehört, dass er sagte“, „Weissage uns“, Creutzige ihn I und II“ oder „Bey deinem Grab und Leichen-Stein“ an und Sie werden wissen, was ich meine.

Top Tonqualität: Lob für den Tonmeister Stefan Ritzenthaler, der die Generalprobe und Uraufführung in der Kirche St. Peter Zürich am 22. und 23. März 2023 sowie vom Konzert in der Matthäuskirche Luzern am 26. März 2023 mitgeschnitten hat. Durch das Zusammenfügen dieser drei Live-Mitschnitte ist das nun erhältliche, in seiner leuchtenden Klanglichkeit (Stimmen) natürliche und in der räumlichen Tiefenstaffelung exquisite Album entstanden.

Fazit: Musik und Aufnahme haben das Zeug zum Kult. Nicht nur die Musik, sondern mindestens ebenso die musikalische Umsetzung zählen zum Besten, was ich in meiner über 50- jährigen Befassung (auch als aktiver Chorsänger) mit (Alter) Musik erlebt habe. Da ziehen alle in einem sensitiven Aufeinanderhören an einem Strang, die Solisten laufen zu Höchstform auf. Die beiden Tenorarien “Mein Heyland, dich vergeß ich nicht“ und „Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ mögen stellvertretend für die anderen als besonders gelungene Beispiele dienen. Der Informationsgehalt und die Gestaltung von CD-Buch (in deutscher, italienischer und englischer Sprache) lassen keine Wünsche offen. Das Label resonando feiert 2024 mit diesem Album sein würdiges zehnjähriges Bestehen.

Tipp: Bei näherem Interesse ist die Website https://markuspassion.org/de/ sehr zu empfehlen.

In der Zeitschrift „Musik und Ästhetik“ ist zudem im Jänner 2024 ein Artikel über die „Markuspassion“ erschienen. (Christoph Haffter, „Trauermusik der Immanenz. Überlegungen zu Nikolaus Matthes‘ Markuspassion nach Johann Sebastian Bach“; in: Musik und Ästhetik, Januar 2024; 28. Jahrgang, Heft 109, S. 88–99). Den Link dazu finden Sie auf der oben genannten Website.

Mehr als eine Empfehlung, ein Muss!

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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