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CD MENDELSSOHN/ALKAN – LIEDER OHNE WORTE; IGOR LEVIT; Sony

17.01.2024 | Allgemein, cd

CD MENDELSSOHN/ALKAN – LIEDER OHNE WORTE; IGOR LEVIT; Sony

„Aus einer sehr starken inneren Notwendigkeit heraus“ – Kunst und Sein

was

Am 3. und 4. Dezember 2023 hat Igor Levit in den Teldec Studios Berlin 14 ausgewählte „Lieder ohne Worte“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy, ergänzt um Charles-Valentin Alkans „Chanson de la folle au bord de la mer“ Op. 31/8 aufgenommen. Am 15. Dezember ist das Album digital erschienen, am 26. Jänner zieht eine Publikation auf CD nach. Es ist ein wichtiges, ein bekenntnishaftes Album geworden, sicher Levits persönlichstes und aus meiner Sicht auch sein künstlerisch dringlichstes.

Wie reagiert ein jüdischer Pianist auf ein beispiellos grausames Ereignis, wie die Anschläge vom 7. Oktober auf Israel? Er selbst sagt zu dem Benefizalbum, dessen Reinerlös der OFEK-Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung und der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V. zugute kommt: „Es ist meine künstlerische Reaktion, als Mensch, als Musiker, als Jude auf das, was ich in den letzten Wochen und Monaten gespürt habe.“ Die gewisse Melancholie in diesen Werken habe Levit in letzter Zeit etwas Trost gespendet.

Felix Mendelssohn-Bartholdy hat 48 lyrische Klavierstücke komponiert, die in acht Heften zu jeweils sechs Nummern erschienen sind. Igor Levit hat aus dem ersten 1829/30 entstandenen Heft, Op. 19b, vier Stücke gewählt, darunter das „Venezianische Gondellied“ in g-Moll, von zweiten Heft Op. 30 (1833/34), das der Komponist Fräulein Elise von Woringen zugeeignet hat, das erste, dritte und sechste Lied. Das dritte Heft ist mit Nr. 2 und Nr. 6 („Duetto“) vertreten, das vierte mit dem „Abendlied“ (Nr. 4) und dem „Volkslied“ in a-Moll (Nr. 5).  Der „Trauermarsch“ in e-Moll (Nr. 3) und das „Venezianische Gondellied“ in a-Moll (Nr. 5) aus dem fünften Heft, Op. 53, sowie das „Andante un poco agitato“ in e-Moll aus dem posthum veröffentlichten achten, Op. 102, beschließen Levits Auswahl, bevor „Der Gesang der wahnsinnigen am Meeresgestade“, von Alkan ebenfalls als ‚Lied ohne Worte‘ in Noten gesetzt, ein letztes Statement setzt.

Levit beginnt mit dem „Andante con moto“ in E-Dur in schwebender Leichtigkeit, meditativ fließend lässt er die Notenschnüre in gefasstem Erzählton perlen, ein Gruß aus einer arkadischen Welt. Die Modulationen im „Andante espressivo“ in a-Moll wirken nachdenklich und einer fernen Schwermut auf der Spur. Im Kontrast dazu scheint das lebendige Moderato in A-Dur ein wenig Sonnenschein und ein laues Lüfterl ins Gemüt hauchen zu wollen. Das erste der drei aufgenommenen „Venezianischen Gondellieder“ zögert mit Bedacht und verharrt in irrlichtender Trance.

Das längste aller auf dem Album versammelten Lieder ohne Worte, das „Andante espressivo“ in Es-Dur, gestaltet Levit als hochromantische Vision eines Traums, aufwühlend und hochfliegend in seiner fragilen Textur. Einen sanften Ruhepol stellt das „Adagio non troppo“ in E-Dur dar, ein durch ein vehementes Aufbäumen kurz unterbrochenes Innehalten außerhalb jeglicher Zeit und Erinnerung. Das zweite „Venezianische Gondellied“ in fis-Moll atmet eine unheimliche Düsternis, unstete Gefühle umwölken das Herz.

Zart bewegte Gedanken im „Allegro non troppo“ in c-Moll, Geflüster und unaussprechliche Sehnsüchte umspülen im „Duetto“ in As-Dur den Seelensand.

‚Sadness of Soul‘ im „Abendlied“ in F-Dur. Levit findet zunehmend einen entschlosseneren Anschlag und kristalline Klarheit im Ton. Das gilt noch mehr für das leidenschaftliche „Allegro con fuoco“, einem „Volkslied“ in a-Moll, wo sich final Zorn und rasende Unruhe Bahn brechen. Levit nimmt das „Andante maestoso“ im Trauermarsch in e-Moll wörtlich, die Akkorde toben im Aufbegehren gegen jegliche Schicksalshörigkeit. Im letzten „Venezianischen Gondellied“ in a-Moll scheint die Seele selbst Segel setzen zu wollen, die Klänge gerinnen im Verlauf des „Andante un poco agitato“ in e-Moll, scheinen sich auf halbem Weg zu einem anderen Gestade auflösen zu wollen.  

Als Abschluss Alkans schwarzgespenstisches, von Verderben und Düsternis kündendes „Chanson de la folle au bord de la mer.“ Wir werden Zeuge von Klängen aus einer unzugänglichen Geistesverfasstheit, die im Nichts enden. Eine Musik so herb und erbarmungslos wie karge Felseninseln. Levit spielt das Stück weniger lautmalerisch als der Alkan-Pionier Jack Gibbons, dafür mit einem gnadenlosen Zug ins Unvermeidliche, die Konzentration gebetsartig nach innen gerichtet. Das Album endet in beklemmender Stille.

Pianistisches Können multipliziert mit einer unfasslichen emotionalen Dichte der Interpretation. Aufwühlend und mehr!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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