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CD MARIO HÄRING & GÄSTE – EXTASE; Berlin Classics. Die hohe Kunst des Hörens – Auf der Spur nach Freiheit im Klang und Trance im Rhythmus

22.02.2024 | Allgemein, cd

CD MARIO HÄRING & GÄSTE – EXTASE; Berlin Classics

Die hohe Kunst des Hörens – Auf der Spur nach Freiheit im Klang und Trance im Rhythmus

Veröffentlichung: 1.3.2024

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Ratio, Kalkül und Vernunft oder Extase, Psychedelisches & Co? Letztere machen neben dem Abtauchen in ‚lost places‘ und andere wundersam urbane Locations einen hübschen Teil des Reizes der Berliner Technoszene aus. Die harten schnellen Beats dieser elektronischen Musik, minimalistisch gleichwie bassdrumwummernd, bilden die Quintessenz und das tanzalchemistische Erfahrungselixier der Berliner Clubszene. Da ich nicht nur Oper und Konzertsäle, sondern auch Clubs der deutschen Hauptstadt kenne, ist mir dieses Paralleluniversum – mit ihrer modischen Lifestyle-Komponente – nicht unvertraut.

Klassik und Techno als Musikrichtungen? Passt auch, je nach individueller Vorliebe. Mit Pop kann man mich zum Beispiel jagen, Techno hat in seiner Härte und repetitiven Mechanik etwas Faszinierendes, das je nach Stimmung aufputschend oder beruhigend wirken kann. Auf jeden Fall ist der Alltag weit weg, wie das auch beim sich Versenken, Hinabtauchen in anspruchsvolle „Klassik von 1500 bis heute“ der Fall sein kann.

Der deutsche Pianist Mario Häring führt uns mit seinen Freunden durch ein speziell zusammengestelltes Programm von Debussy, Liszt, Wagner, Cage bis zu Skrjabin und Connesson. Mittels Klavier- und Kammermusik des 19. und 20. Jahrhunderts kann der energetische Verlauf, die Intensität eines Berliner Techno-Wochenendes imaginiert werden. Für alle, die damit gar nichts anfangen können: Sie haben natürlich die Option, die Musik abseits aller Ideen und Deutungsmuster als Absolutes wahrzunehmen und sich auf das Abenteuer des Nur-Hörens von kompromisslos eigenkolorierten Lesarten einzulassen.

Erlöst werden wir hier nicht, weder durch die der Romantik oder Minimal Music zuzuordnenden Werke noch sonstwo. „Spannung statt Katharsis“ und „Lust auf Entgrenzung“ stehen vielmehr als Leitmotive musikalisch generierter „Ektase“, wie sie Mario Häring und der Autor des Textes im Bocklet Ralf Dombrowski präsentieren.

Höchst reizvoll ist dieses Album nicht nur wegen der flirrenden „L’Isle joyeuse“ (Debussy), dem tastenakrobatischen „Mephisto-Walzer“ (Liszt) oder der synästhetisch-kosmischen Klaviersonate Nr. 5 Op. 53 von Alexander Skrjabin, sondern der in ihrem Flow und rhythmischen Akkuratesse so dringlichen, doch in sich stimmigen Interpretationen von Mario Häring.

Bei Skrjabin etwa kann man der Welt von 1907 nachspüren, als der Komponist sich der hysterischen Grundstimmung des Fin-de siècle an die Fersen heftete oder den eigenen Wahrnehmungsspielraum ausloten. Und diese Übung ist in diesem dem Freund und Lehrer des Solisten Häring Lars Vogt gewidmeten Album besonders gefragt. Das Programm ist reich an stilistisch sich reibenden Stücken, wie etwa die „Techno Parade für Flöte, Klavier und Klarinette“ (Clara Andrada de la Calle Flöte, Sharon Kam Klarinette), von Guillaume Connesson, die „Bacchanale für präpariertes Klavier“ von Cage versus die drei „Chansons de Bilitis“ von Debussy (Josefine Göhmann Sopran).

Häring begeistert durch technische Perfektion, aber mehr noch durch ein gewisses Bürsten der Noten gegen den Strich, eine unbändige Energie bis zur Besessenheit. Außerdem ist Häring ein Artist des graduell diversifizierten Anschlags. Hämmernd glasklarer Dämonie in der „Bacchanale“ steht ein romantisch lyrisches sich Verströmen im Andante der Sonate in g-Moll für Cello (Alexandre Castro-Balbi) von Sergej Rachmaninov gegenüber. Am ausgefallensten fühlt sich vielleicht der Liebestod aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ in der Transkription für Klavier von Franz Liszt an. Isolde entschwindet nicht transzendierend ins Mystische, die langen Melodiebögen scheinen das Publikum vielmehr voller Liebe und leiser Melancholie zu umarmen. 

Über kurz oder lang zieht auch das Schönste vorüber. Nicht aber der Nachhall dieses Albums, das aufregender und überzeugender nicht hätte ausfallen können.

  • Claude Debussy: L’Isle joyeuse; trois Chansons de Bilitis
  • Franz Liszt/Richard Wagner: Mephisto-Walzer Nr. 1, Isoldens Liebestod
  • Guillaume Connesson: Techno-Parade für Flöte, Klarinette & Klavier
  • Alexander Scriabin: Klaviersonate Nr. 5
  • John Cage: Bacchanale für präpariertes Klavier
  • Sergej Rachmaninoff: Cellosonate op. 19 (3. Satz)

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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