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CD KEVIN PUTS: THE HOURS – Weltersteinspielung, Live-Mitschnitt aus der Metropolitan Opera New York vom 10.12.2022; Erato

23.04.2024 | Allgemein, cd

CD KEVIN PUTS: THE HOURS – Weltersteinspielung, Live-Mitschnitt aus der Metropolitan Opera New York vom 10.12.2022; Erato

Joyce DiDonato, Renée Fleming und Kelli O’Hara brillieren in einer brillanten Vertonung nach Michael Cunninghams berühmter Novelle

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„Amerikanische Musik zu schreiben ist sehr einfach. Alles, was man tun muss, ist, Amerikaner sein und die Musik, die man sich vorstellt, aufschreiben.“ Virgil Thomson

Die Metropolitan Opera spielt vermehrt zeitgenössische Opern, um für zusätzliche Publikumsschichten attraktiver zu sein. Ein Drittel aller an der Met in dieser Saison präsentierten Stücke wurde in den letzten vierzig Jahren geschrieben. Der amerikanische Opernfrühling beschränkt sich aber nicht auf das berühmte New Yorker Opernflaggschiff, sondern ist ein landesweites Phänomen. Außerdem: Wenn es die staatlich nicht subventionierten amerikanischen Opernhäuser tun, dann liegt sicher auch kaufmännisches Kalkül dahinter. Das reichhaltige amerikanische Opernschaffen der Gegenwart hat nämlich nichts mit zeitgenössischen Opern hierzulande zu tun, und noch weniger plagt sie sich und uns mit sperriger vokaler Dauerhysterie in Extremlagen oder von jeglicher emotionaler Einfühlung in die Seelenlagen der Protagonisten losgelösten atonalen Geräuschkulissen.

In den USA hat sich nämlich seit geraumer Zeit ein ganz eigener, äußerst erfolgreicher Operntypus entwickelt, der überwiegend auf tonaler Basis literarisch hochwertige Plots mit gut verdaulicher, nichtsdestotrotz spannend einfallsreicher und handwerklich geschickt aufbereiteter Musik verbindet. Das Motto lautet: „Verständlichkeit für alle“.

Hits wie Jake Heggies „Dead Man Walking“ mit bislang über 50 internationalen Produktionen, John Coriglianos „The Ghosts of Versailles“ oder André Previns „A Streetcar Named Desire“ geben zudem dankbare Vehikel für Opernstars der old school ab. In jüngerer Zeit haben Jeanine Tesori mit „Blue“, Matthew Aucoin mit „Eurydice“ Terence Blanchard mit „Shut Up in My Bones“ reüssiert, um nur einige wenige zu nennen. Da scheint sich gerade die Broadway Erfolgsstory auf Opernebene zu wiederholen.

Referentiell auf genuin amerikanische Musiktraditionen gestützt (mir sind auch so manche kleine Anleihen von Wagner bis R. Strauss nicht entgangen), finden sich in Kevin Puts „The Hours“ Elemente á la Bernstein, Minimal Music, Jazz, überhöht in pathetischem Aufrauschen nach Art von Filmmusiken. Das Libretto von Greg Pierce stützt sich neben der gleichnamigen Buchvorlage von Michael Cunningham ausdrücklich auch auf den Paramount Pictures Film aus den Jahr 2002 (Regie Stephen Daldry) mit Nicole Kidman als Virginia Woolf, Julianne Moore als Laura Brown und Meryl Streep als Clarissa Vaughan.

Die Oper spielt an einem Tag der Jahre 1923, 1949 und 1990. Im Mittelpunkt stehen drei Frauenschicksale aus verschiedenen Generationen: Virginia Woolf, die aus einer Welle an Lethargie und Depression an ihrem Roman Mrs. Dalloway zu schreiben beginnt. Laura Brown, die gemeinsam mit ihrem Sohn Richie den Geburtstag ihres Ehemanns Dan feiern (muss), heimlich ihre Nachbarin liebt und ihren Selbstmord plant. Die Lektorin Clarissa Vaughan lebt mit ihrer Partnerin Sally und ist ebenso gefühlsmäßig nicht eins mit sich selbst. Für ihre an HIV erkrankte Jugendliebe Richard Brown (der Sohn von Laura) bereitet sie eine Preisverleihungsparty vor. Clarissas Leben scheint in ihrem Unglück die Romanfigur Mrs. Dalloway zu doppeln. „The Hours“ birgt auf jeden Fall ein aktuelles Sujet. Die dann und wann extremen Herausforderungen, die das Leben an uns alle stellt, die Frage, wie wir Stunde um Stunde unseres Lebens verbringen, welche Themen uns beschäftigen, wo unsere innersten Neigungen liegen, werden in dieser Oper symptomatisch und typologisch abgehandelt.

Was den Roman und den Film von der Oper strukturell unterscheidet, ist die Möglichkeit der Oper, die Zeitebenen, das Hintereinander der Szenen verschwimmen zu lassen zugunsten von sich überlappenden bzw. simultanen Auftritten der Frauen und anderer Protagonisten des Stücks. In Duetten und Ensembles gelingt es Puts, die Zeit zu transzendieren. Puts hält für jede Hauptfigur eine eigene musikalische Atmosphäre bereit: Für Virginia Woolf sind das sparsam instrumentierte, an barocker Intimität orientierte Klänge mit unerwarteten harmonischen Rückungen. Für die in New Yorker Metropolenquirligkeit lebende Clarissa hat Puts große, an Samuel Barber und Leonard Bernstein anknüpfende Tableaus mit einem Quäntchen Hollywood ersonnen. Lauras signature music ähnelt aufgekratzen Jazz- und Swingrhythmen eines Henry Mancini bzw. dem Bigband-Sound eines Lawrence Welk.

Erst am Ende des zweiten Akts kreuzen sich diese Universen von Clarissa, Laura und Virginia in dem beeindruckenden „All along“, das Puts als bewegende Hommage an die berühmte Marschallin Renée Fleming Richard Strauss‘ Rosenkavalierterzett nachempfunden hat. Immerhin war es Fleming, die Puts zu dem Stoff angeregt hat.

Eine wesentliche Rolle in „The Hours“ kommt dem Chor zu, um die „unerklärliche Art von Magie und Sinn für Mystik“ von Cunninghams Prosa einzufangen und ihren lebendigen inneren Monologen Ausdruck zu verleihen. Diese oft von Solostimmen überlagerten Chöre sind in dieser Qualität in der jüngeren Opernliteratur (Britten konnte Chöre ebenso effektvoll einsetzen) einmalig. In all seiner niederschmetternden Wucht möchte ich den Chor „for alone you are holy“ (Akt 2, Szene 6) besonders erwähnen.

Dirigent Yannick Nézet-Séguin weiß die schillernde Partitur in all ihren traumartigen Bewusstseinsebenen, ihre emotionalen Wechselbäder und instrumentalen Nuancen von der symphonischen Anlage des Orchesterparts, der sanglich ergiebigen Solos sowie der stimmungsvollen Chöre mit den fantastischen Kräften von Chor und Orchester der Met in einen nie endenden theatralischen „thrill“ und „suspense“ zu tauchen.

Dass die Geschichte so menschlich berührend erzählt wird, liegt in erster Linie an den charismatischen und stimmlich prächtig disponierten Interpretinnen Renée Fleming (Clarissa), Joyce DiDonato (Virginia Woolf) und Kelli O‘Hara (Laura Brown). Sie heben durch ihre vollkommene Rollenidentifikation die angesprochenen individuellen Leiden, die seelische Zerrissenheit und harten Schicksalsschläge der Personen des Stücks ins Allgemeingültige einer jeden und jede angehenden conditio humana. Kelli O‘Hara über das Verbindende der drei Hauptfiguren: „Lebenskämpfe, Freuden und Bedauern, immer mit der Frage, ob wir das Beste aus der Zeit herausgeholt haben, die wir haben“.

In weiteren Rollen sind Denyce Graves (Sally), John Holliday (man under the arch), Tony Stevenson (Walter), Saen Panikkar (Leonard Woolf), Kathleen Kim (Barbara, Floristin), Brandon Cedel (Dan Brown), Kai Edgar (Richie, Knabensopran) und Kyle Ketelson (Richard) zu hören.

Der Film endet mit Virginias Schreiten in den Fluss. Die letzten Worte ihres Briefes an ihren Mann: „Auf ewig die Jahre zwischen uns. Auf ewig die Jahre. Auf ewig die Liebe. Auf ewig: die Stunden.“

Hinweis: Am 5., 10., 15., 18. und 21. Mai 2024 wird „The Hours“ an der Met in der Starbesetzung Fleming, DiDonato und O’Hara wiederaufgenommen.

https://www.metopera.org/season/2023-24-season/the-hours/?gad_source=1&gclid=CjwKCAjwuJ2xBhA3EiwAMVjkVM9gLSGcHuA787P2wZ7Ympdu8m1RitiR4X4h3_sohrvakbFRSlaSdBoCrd0QAvD_BwE&gclsrc=aw.ds

Fazit: Zeitgenössische Oper als superbes Fest der schönen Stimmen. Auch als bloße Tonspur unwiderstehlich gut.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

 

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