CD JOHANNES BRAHMS: KLAVIERKONZERTE – ANDRÁS SCHIFF und das ORCHESTRA OF THE AGE OF ENLIGHTENMENT; ECM New Series
Die Beschäftigung mit Neuaufnahmen aus dem quasi geheiligten Kanon an Spitzenwerken des 19. Jahrhunderts lohnt in der Regel dann, wenn in der Substanz der Interpretation, des Klangs oder der Fassung Neues geboten wird. Gerade bei Brahms‘ Klavierkonzerten, die technisch und musikalisch zu den größten Herausforderungen eines jeden Pianisten zählen, bietet die Diskographie einen reichhaltig gedeckten Tisch an legendären Aufnahmen, aber auch sehr guten neueren Publikationen. Natürlich haben Tastenstars wie Clifford Curzon, Arthur Rubinstein, Claudio Arrau, Julius Katchen, Vladimir Horowitz oder Wilhelm Backhaus zu Brahms zeitlos Gültiges zu sagen gehabt. Die vorliegenden CDs des innovativ neugierigen A. Schiff zeigen jedoch, dass den bekannten Lesarten noch faszinierend Ungehörtes hinzuzufügen ist.
Die rundum geglückte Aufnahme der beiden Konzerte in d-Moll, Op. 15 und in B-Dur, Op. 83 hebt sich tatsächlich in vielerlei Hinsicht von ihren Vorgängern ab: Der ungarisch-britische Virtuose András Schiff spielt nicht nur den Solistenpart, sondern hat hier erstmals auch die musikalische Leitung übernommen. Ihm zur Seite hören wir das Orchestra of the Age of Enlightenment, ein historisch orientiertes und informiertes Ensemble der Sonderklasse. Die Streicher verwenden Darmsaiten, die Bandbreite an Vibrati und Portamenti ist größer als bei Orchestern mit modernen Instrumenten. Aber noch wesentlicher ist, dass Schiff auf die Autographen mit präzisen Metronom- und Tempoangaben zurückging, welch letztere in den gedruckten Notenausgaben fehlen.
Schiff, der zu Recht meint, dass Musik in Zeiten mit hohem Alltagslärmpegel meist zu laut gehört wird, hält die Musik von Brahms nicht für „schwerfällig, grob, dick und laut, sondern für durchsichtig und feinfühlig, dynamisch äußerst differenziert und schattiert.“ So waren auch die von Brahms hoch geschätzten Orchester von Leipzig und Meiningen vergleichsweise schlank besetzt. Entsprechend dieser Maxime wählt András Schiff seinen höchstpersönlichen Zugang zu den Konzerten, den er nach öffentlichen Auftritten im Frühjahr 2019 im Dezember desselben Jahres für würdig hielt, in den Abbey Road Studios in London auf Tonträger zu verewigen. Zu unser aller Freude. Die Schlankheitskur hat Brahms hörbar gutgetan. So sehnig-muskulös und dennoch voller sensitiver Gestik, reich an poetischer Erzählkunst und luftig-akrobatischer Anmut ward Brahms selten gehört.
Einen wirklichen Coup landet Schiff neben seinem artikulatorisch hervorragenden, seismographisch die feinsten Erschütterungen in Brahms emotionale Klangrede individuell nachzeichnendem Spiel aber mit der Wahl seines Instruments, einem Blüthner Nr. 762. Bei diesem historischen, 1859 in Leipzig gebauten Flügel sind die Basssaiten nicht über Kreuz, sondern parallel angeordnet. Damit sind sie auch kürzer. Der Flügel in der Nachfolge der Hammerklaviere beruht auf der „Blüthner Patentmechanik“. Rein klanglich eröffnen sich auf dem Instrument komplett neue Horizonte und Eindrücke.
Schiff vermag mit dem reizvoll anders klingenden Klavier eine feenhaft intime Atmosphäre zu beschwören. Die delikat wie mit einer Zither gezupft klingenden Tönen schweben ätherisch im Raum. Alles scheint in goldenes Licht getaucht. Ebenso aber vermag der erfahrene Solist das feiner aufgestellte Instrument kraftvoll und bestimmt durch stürmische Gefilde zu steuern. Da dialogisieren präzise abgezirkelte, knackig ornamentierende Läufe kontrastreich mit dem vielstimmigen Chor der Orchesterstimmen. Die bronzen schimmernden Töne integrieren sich zudem stärker „kollegialer“ in das Gesamte im direkten Vergleich zu dem stählernen des vom Bösendorfer-Fan Schiff so gar nicht geschätzen, neutraleren und plumperen Steinwayklangs. Das romantische Gefühl für das Rauschen der Natur, das Flüstern von Wald und Wind gewinnt mit Blüthner unverwechselbar Kontur.
Schiff begann sich als Siebzehnjähriger mit dem d-Moll Konzert (wo der junge Brahms noch „ohne Bart und Bauch“ auftritt) zu befassen, mit dem späteren B-Dur Konzert ließ er sich bis zum Vierziger Zeit. Der jetzt 68-jährige hat also in Jahrzehnten seine Interpretation reifen lassen können. Und versucht dennoch was ganz Neues. Womit er auf ganzer Linie reüssiert. Diese Publikation wird als Krönung von Schiffs Brahmsspiel in die Annalen eingehen.
Dr. Ingobert Waltenberger