CD JOHANN SEBASTIAN BACH „MATTHÄUSPASSION“ – Raphaël Pichon und das Ensemble PYGMALION; harmonia mundi
Hochdramatische Interpretation und Seelenbalsam: In Schönheit sterben – die empfehlenswerteste Passionsaufnahme für Ostern
„Die Matthäus-Passion stellt ein kollektives Erlebnis von Menschlichkeit dar, wie es ergreifender kaum sein kann. Die Geschichte vom Leiden Christi ist auch heute noch ein Drama, ein universelles moralisches Dilemma von großer Beständigkeit, in dem sich jeder – unabhängig von Spiritualität und Kultur – mit seiner eigenen Sterblichkeit und seiner eigenen Suche nach Antworten konfrontiert sieht.“ Raphaël Pichon
Raphaël Pichon legt mit seinem meisterhaften Instrumental- und Vokalensemble Pygmalion eine der überwältigendsten Passionseinspielungen der Plattengeschichte vor. Dabei holt er sich das Beste aus der traditionellen Bach-Pflege der letzten 70 Jahre, seien es die artikulatorischen und akzentreichen Gesten aus der Originalklangbewegung oder die in Barockmusikinterpretationen schon zum wahrlich guten Ton gehörende Ausstattung des Orchesters mit historisch authentischen Instrumenten, sei es die Besetzung der Solistenrollen mit erfahrenen Opernstimmen wie einst bei Klemperer. Pichon lässt ein großes, aufregend sinnlich klingendes Instrumentalensemble mit 21 Streichern und rund warmen Holzbläserton der Fagotte, Oboen und Flöten aufspielen, setzt einen gemischten Chor aus erwachsenen Stimmen ein, in dem auch die Solisten mitwirken und hält an zügigen Tempi fest, die der Geschichte einen theatralischen Charakter im besten Sinne des Wortes verleihen.
Kein unnötiges „Experiment“ trübt das Hörvergnügen. Der Hörer hat weder unter spitzen anämischen Violinen noch darunter zu leiden, dass die Solisten auch noch den Chor dazu übernehmen müssen. Im mit 33 Stimmen besetzten, technisch vorzüglichen Kammerchor hören wir wunderbare Frauen- und nicht fiepende Knabenstimmen als Sopran.
Die Soli in den Rezitativen, Arien und verschiedenen Rollen sind mit Julian Prégardien (Evangelist), Sabine Devieilhe, Hana Blažíková (Sopran), Lucile Richardot, Tim Mead (Alt), Reinoud van Mechelen, Emiliano Gonzales-Toro (Tenor) und Stéphane Degout, Christian Immler spektakulär gut besetzt. Eine besondere Erwähnung verdient auch die glorreiche Basso Continuo-Gruppe mit Matthieu Boutineau (Orgel), Antoine Touche (Cello), Thomas de Pierrefeu (Kontrabass), Pierre Gallon (Cebalo) und Thibaudt Roussel (Theorbe).
Raphaël Pichon will seinen Hörern ein akustisches Trostpflaster bieten, denn schließlich handelt dieses jeden liturgischen Rahmen sprengende Werk von „Ungerechtigkeit, Verrat, Liebe, Opfer, Vergebung, Reue, Mitgefühl und Erbarmen. Bach bringt dies all zum Ausdruck und macht so auf beispiellose Weise die Verletzlichkeit und Schwächen von uns Menschen spürbar; es ist die Beschreibung einer zerrütteten Welt.“ Pichon sieht in der Potenzierung von Zeit und Raum – Chor und Orchester treten verdoppelt auf – das Ziel, die Geschichte beharrlich in die Gegenwart zurückzuführen. Dazu gehört auch, dass manche Figuren der Passion im Präsens sprechen und dadurch das Hier und Jetzt hereinholen. Den Aufstand der Menschen nach der Gefangennahme von Jesus (Nr. 27b „Sind Blitze, sind Donner“), dieser durch ihre Dramatik und Wildheit beispiellosen Musik etwa, aber auch den rhetorischen Mitteln der Antiphonie generell setzt Pichon mit „einem theatralen, spirituellen und mehrdimensionalen Klangraum gleich, und wir alle scheinen alsbald als Zuhörer und Akteure darin eingeschlossen und eingetaucht“.
Pichon setzt als Dirigent auf klangreliefartige Plastizität und stellt barocker Opulenz das Raue und Blutige gegenüber. So lässt er aus dem filmischen Empfinden der Rasanz an Szenen- und atmosphärischen Wechseln, der überwältigenden Abfolge an Emotionen am Ende ein Gefühl der kathartisch erreichten Leichtigkeit erstehen. Der junge französische Dirigent scheint unsere in metaphysischer Erschütterung weit offenen Augen auf ein aus der Zeit gefallenes Gemälde in der pastosen überwältigenden Farbenpracht, in der Art der Drastik eines Rubens zu lenken, in dieser Geschichte von „einem Retter, von einem Opfer, das kommen und die Menschheit erschüttern wird.“
Diese so individuelle Tonmalerei des Raphaël Pichon hat ihre Wurzeln in der französischen clarté ebenso wie im mediterran würzigen Duft der Provence. Musikarchitektonische Fragen und ihre praktischen Antworten, kontrapunktische Kunstfertigkeit und alle Geheimnisse der trickreich verschlüsselten Botschaften der Partitur sind die eine Seite, der Vermittlung der humanitär-spirituellen Botschaften die andere. Beide Pole sind bei Pichon und seinen künstlerisch aufeinander fest eingeschweißten Ensembles in wissend empfindsamen Händen.
Dr. Ingobert Waltenberger