CD: Jean-Paul Dessy String quartets and quintet tara quartet Cypres, CYP4669
Rätselhafte Musik von Jean-Paul Dessy

Eine seltsame CD! Sie lässt nicht einfach in den Schrank neben Mahler, Ligeti und die letzte zufällig erworbene ECM-Scheibe stellen. Diese Veröffentlichung von Jean-Paul Dessy bei Cypres gehört genau in diese Kategorie: Sie passt nicht, will nicht passen und macht daraus eine Besonderheit.
Jean-Paul Dessy ist ein Komponist, der nicht in Schubladen passt. Er ist weder der Cousin dritten Grades von Steve Reich noch der heimliche Enkel der Spektralmusiker. Er baut Räume, die sich anfühlen wie Kathedralen ohne Dach: einerseits intim, andererseits so groß, dass man Angst bekommt, sich darin zu verlaufen. Man hört und denkt: Ach so, darum also spricht man von „zeitgenössisch“.
Der Auftakt funktioniert wie eine Einladung – oder besser: wie das langsame Öffnen einer schweren Tür. Am Anfang nur ein Hauch, fast nichts. Dann geht sie plötzlich auf, und man steht in einem riesigen Klangsaal. Im zweiten Satz jedoch das Gegenteil: Plötzlich ist man in einem Insektenhotel. Ein Schwarm Bienen, hektisch, sirrend, als hätten die Streicher Red Bull getrunken.
Kaum hat man sich daran gewöhnt, zieht das Stück wieder zurück. Dritter Satz: geheimnisvoll, still, tief. Man könnte sagen: „wie ein See“, aber es ist eher der See, in dem man nachts schwimmen geht und sich fragt, was da unten eigentlich lauert. Das Finale dann ein Dauerlauf. Kein gemütliches Joggen, sondern ein Wettkampf, bei dem der Hörer das Gefühl hat, dass er dringend neue Schuhe braucht.
Ein Stück, das beginnt, als wolle es sich anschleichen. Kaum hörbar, ein bisschen wie Nachbarn, die hoffen, man bemerke nicht, dass sie heimlich das fünfte Mal in der Woche grillen. Doch die Musik wächst, Instrument für Instrument, und plötzlich stellt man Fragen, die man gar nicht beantworten kann: Wo geht das hin? Warum klingt das so? Hat das alles einen Plan?
Der Mittelteil wirft den Hörer in die Schwerelosigkeit. Ein riesiger, offener Raum, und man schwebt darin – verloren, ein bisschen wie nach der Katastrophe im Science-Fiction-Film, wenn alle Hauptdarsteller tot sind und nur die Streicher überlebt haben. Dann: Wieder Kreisbewegungen, wieder Drängen. Doch kaum will man sich auf diesen Rhythmus einlassen, macht das Stück eine Vollbremsung. Am Ende steht das Cello auf, schwer, dunkel, sagt: „So, jetzt ich.“ Und die anderen nicken. Ein erstaunlicher Moment, feierlich, wenn man nicht gerade völlig erledigt wäre vom Zuhören.
Hier passiert der große Stilbruch. Das Stück beginnt, als sei man bei einem Autorennen. Streicher als Rennwagen, volle Fahrt voraus. Man hört die Motoren (na gut, die Bögen), wie sie aufheulen, sich überholen, in die Kurven gehen. Ein völlig anderes Universum – als hätte Dessy beschlossen: „Genug Meditieren, jetzt gibt’s Adrenalin.“
Und dann, zack, wieder raus. Plötzlich bricht die Geschwindigkeit ein, als würde ein Lastwagen mitten auf die Strecke fahren. Aber keine Sorge, sie beschleunigen wieder. Es ist ein Spiel, das man eigentlich gar nicht gewinnen kann, aber immerhin: Man ist dabei.
Über Dessys Klangfantasien lässt sich viel sagen, aber ohne die Musiker wäre das alles ein hübsches Manuskript in der Schublade. Das Tana Quartet (plus Verstärkung) geht hier voll auf Risiko. Präzision? Ja. Technik? Klar. Aber entscheidend ist etwas anderes: Sie klingen, als hätten sie den Staub aus den Partituren gesaugt und ihn mit Sauerstoff gefüllt. Sie spielen diese Musik, als sei sie ihr Lebenselixier.
Auch die Klangqualität will gewürdigt werden. Kein steriles Studio-Glattbügeln, sondern Weite. Die Musik darf Raum einnehmen, darf hallen, darf so tun, als sei sie futuristisch. Wer Kopfhörer trägt, hört Details, die man lieber nicht hören will – Geräusche, die irgendwo zwischen faszinierend und befremdlich pendeln. Aber genau das macht’s: Man ist mittendrin, nicht davor.
Diese CD ist nichts für Sonntag mit Butterkuchen. Sie will keine Freunde machen, sie will diskutieren, nerven, fordern. Und ja, manchmal denkt man: „Warum tue ich mir das an?“ Aber dann, plötzlich, ein Moment, in dem alles passt, und man merkt: Ah, deswegen.
Dessys Musik ist wie ein Rätsel, das sich nicht lösen lässt, und gerade deshalb spannend bleibt. Man sitzt danach da, schüttelt den Kopf – und denkt vielleicht im nächsten Atemzug: „Warum eigentlich nicht öfter sowas?“ Wer mutig genug ist, wird belohnt. Und sei es nur mit dem seltenen Gefühl, dass Zeit tatsächlich stillstehen kann.
Dirk Schauß, im Oktober 2025
Jean-Paul Dessy
String quartets and quintet
tara quartet
Cypres, CYP4669

