Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD JAN LISIECKI: PRELUDES von Chopin, J.S. Bach, Rachmaninov, Messiaen und Górecki; Deutsche Grammophon

20.03.2025 | Allgemein, cd

CD JAN LISIECKI: PRELUDES von Chopin, J.S. Bach, Rachmaninov, Messiaen und Górecki; Deutsche Grammophon

gore

Der im kanadische Calgary geboren Jan Lisiecki hat polnische Wurzeln. Das alleine reicht aber sicher nicht als Begründung, warum er als blutjunger Pianist von nur 13 Jahren beginnen durfte, in Polen selbst mit der Camerata Varsovia die Chopin-Klavierkonzerte aufzuführen. Für weltweites Aufsehen sorgten die in der Folge vom Chopin Institut veröffentlichten Mitschnitte.

Auf seinem neuen Album führt Lisiecki uns durch den so unterschiedlich konnotierten Kosmos der Präludien. Gleich, ob es sich um eine die Stimmung ankündigende Einleitung für einen Choral bzw. eine Fuge oder ab dem 19. Jahrhundert um ein eigenständiges Charakterstück handelt, das auf eine offene Form, einen improvisatorischen Gestus und fantasiebeflügelndes Musizieren setzt, ich verbinde mit dieser Musikform hauptsächlich die Namen J.S. Bach, Frédéric Chopin, Claude Debussy oder Dmitri Shostakovich.

Lisiecki hat für sein Programm zwei Präludien aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ (die allseits bekannten in C-Dur BWV 846 und unglaublich rasant in c-Moll, BWV 847, ohne die zugehörigen Fugen) sowie als Angelpunkt des Projekts Frédéric Chopins berühmten Zyklus Op. 28 (24 Préludes), ergänzt um die Préludes in As-Dur, Presto und in cis-Moll, Op. 45 Sostenuto, ausgewählt. Daneben erfreuen die mitreißenden, mit orchestralem Impetus, überschäumend interpretierten Préludes in d-Moll, Op. 23/3, in cis-Moll, Op. 3/2 und in g-Moll, Op. 29/5 alla marcha von Sergej Rachmaninov.

Den drei in ihrer musikalischen Frugalität dahin plätschernden Préludes pour piano von Olivier Messiaen („La colombe“, „Chant d’exctase dans un paysage triste“ und „Le nombre léger“; Auswahl aus den acht Präludien) mit ihren synästhetischen Zuschreibungen kann ich weniger abgewinnen. Zudem nimmt sich Lisiecki hier derart dehnend zurück, dass die Musik in sich selbst zu versanden scheint.

Dafür entschädigen die beiden Préludes Op. 1/1 und Op. 1/4 aus dem Jahr 1955 des 32-jährigen Henryk Górecki mit ihrer sprudelnden Energie, den bohrenden Rhythmen und dem agogischen Drive des Interpreten umso mehr. Eine Entdeckung. 

Aufmerksamkeit gebührt auch der in ihren kantigen Gegensätzen relativ schroffen Lesart der 24 Préludes, Op. 28 von Frédéric Chopin. Hier zeigt sich Jan Lisiecki von einer anderen Seite. Für jedes dieser nach dem Quintenzirkel angeordneten, mit Ausnahme der hinlänglich bekannten „Regentropfen“ Prélude Nr. 15 in Des-Dur kurzen bis sehr kurzen Stücke steckt Lisiecki auf individuelle Art mit jeweils adaptiertem Anschlag und dynamischer Weite die Rahmen ab.

Jeglichem Stereotyp und jeder Sentimentalität abhold, setzt der Pianist in einer pausenlosen Wiedergabe auf eine alle Extreme auslotende Temporegie, lässt die unsterblichen Preziosen wie die Nr. 4 in E-Dur oder das Andantino in A-Dur (Nr. 7) in süßer Melancholie schwelgen. Der Hörer fühlt den Stillstand der Zeit, die Atempause, die nach dem flüchtigen Intermezzo des Prélude in D-Dur, noch einen Moment hinausgezögert wird, bevor Lisiecki bei der Prélude Nr. 8 in fis-Moll die Vortragsbezeichnung molto agitato (allzu sehr) beim Wort nimmt.

Die vielen Rubati gestaltet Lisiecki weniger geschmeidig als andere Interpreten, die Tempowechsel werden oft rau exekutiert. Das Presto in gis-Moll lässt der Pianist ruppig staksen, bevor er im Lento in fis-Moll (Nr. 13) wieder auf den Zauber der lyrischen Verinnerlichung baut.

Den irren Höllenhunden im Allegro es es-Moll folgt das berühmte Sostenuto in Des-Dur (Nr. 15), sehr gedehnt angegangen, sich in seiner Intensität langsam steigernd, bis es – den Notentext buchstabierend – ziemlich spannungsarm ausklingt.

Das Muster von extrem langsam bis zu gehetzt vorwärts stürmend wiederholt sich auch im weiteren Verlauf des Zyklus. Mal virtuoser Wahnsinn, mal meditatives Verweilen.

Ob man Chopin so gespielt hören mag, wird wohl Geschmackssache bleiben. Ich finde, dass Lisiecki mit diesem zehnten Album wieder grundsätzlich zeigt, dass er ein außergewöhnlicher Pianist mit Ideen ist. Mir persönlich sind diese Préludes Op. 28 in ihren gesuchten Gegensätzlichkeiten zu künstlich, ja oftmals zu eckig geraten. Das Fließen der Musik, ihre organische Entwicklung, der lyrische Gehalt der Musik bleiben so teilweise auf der Strecke. 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken