CD HECTOR BERLIOZ: SYMPHONIE FANTASTIQUE – Les Siècles, François-Xavier Roth; harmonia mundi
Was war diese Hector Berlioz doch für ein liebenswerter Neurotiker, ein echter Goethe‘scher Werther, ein für alle Seelenerschütterungen sperrangelweit offener Romantiker, der nur seine einzige echte Jugendliebe Estelle vergötterte, doch versuchte, sich mit einer Überdosis Opium das Leben zu nehmen, als ihn die Schauspielerin Harriet Smithson nicht sofort erhörte. Smithsons Darstellung der Ophelia und der Julia erschütterten unseren Berlioz aber so tief, das er sein der Kunst entsprungenes Gefühl für Liebe hielt. Er ist, denke ich, nicht der einzige, der keinen klaren Trennstrich zwischen Imagination und Leben ziehen kann. So wurden echte Albträume, ja sogar eine Exekution, ein Sabbat oder Opiumrausch erstmals Gegenstand von Musik in dieser sogenannten „Episode aus dem Leben eines Künstlers, dieser fantastischen Sinfonie in fünf Teilen“.
Und da war noch Beethoven, dessen Symphonien Berlioz im Pariser Conservatoire hörte. Dieser Dreiklang aus Goethe (ein Jahr vor der Symphonie fantastique schrieb Berlioz die „Huit scènes de Faust“), Shakespeare und Beethoven war es auch, der die Komposition seiner Symphonie fantastique inspirierte und prägte. Nur sechs Jahre nach Beethovens Neunter sprengte Berlioz abermals alle Grenzen symphonischer Konvention und Tradition.
In der musikgeschichtlich revolutionären fünfsätzigen Programmsymphonie setzt Berlioz Instrumente ein, die vorher nur der Oper vorbehalten waren und verwendet ein Thema leitmotivisch als idée fixe. Aber Berlioz war auch ein veritables Landkind. Die Spuren, die die eindrucksreichen Jugendjahre in La Côte-Saint-André hinterlassen haben, finden sich als klangreiche Landschaftserkundungen auch im dritten Satz der Symphonie mit dem Titel „Auf dem Lande“ wieder. Beethovens Pastorale bot das eindrucksvolle Muster.
Für François-Xavier Roth und sein auf historischen Instrumenten spielendes Orchester „Les Siècles“ ist diese Symphonie fantastique nach zehn Jahren die zweite und wir scheuen nicht davor zu sagen, definitive Aufnahme. Wie Roth mit diesem qualitätsvollen Klangkörper alle instrumentalen Finessen auslotet, opernhaft alle Register in dem Drama um „einen Künstler, der sich in eine Idealfrau verliebt“ zieht, beeindruckt vom ersten Ton an. Das Programm um Träumereien und Leidenschaften, einen Ball, Delirien aus Furcht nicht geliebt zu werden, Vorstellung der eigenen Hinrichtung bis hin zu einer Hexensabbat-Orgie wurde wohl kaum noch so plastisch und wohl auch drastisch erzählt wie hier. Insbesondere der fünfte Satz „Traum von einer Sabbatnacht“ mit den Kirchenglocken wird zu einer atemberaubenden Walpurgisnacht. So stelle ich mir den Hexenball in der Wohnung Nr. 50 in Bulgakows Roman “Der Meister rund Margarita“ vor.
Wie Roth im Finale die Tempi strafft, voranpeitscht und hochdramatisch zuspitzt, ist eine Sensation.
Das Album schließt mit der Ouvertüre „Les Francs-Juges“ (übersetzt: Die Femerichter) in der zweiten Fassung von 1829, und damit vom selben Jahr wie Berlioz‘ erste Faust Vertonung. Motivisch und thematisch (zuvörderst beim „Gang zum Richtplatz“) mit der ein Jahr später komponierten Symphonie fantastique verwandt, finden sich dazu Einflüsse von Carl Maria von Weber. Und wiederum gelingt Roth und den Seinen eine aufrüttelnde Wiedergabe rund um „Liebe, die unermesslich weite Natur und Hexerei.“ Bei schneidenden Rhythmen, einer wohldosiert elektrisierenden Hochspannung kommen auch die lyrisch verträumten frühromantischen Schwärmereien und über allem die hochfliegende Konzeption dieser tollen Musik nicht zu kurz. Eine klare Referenzaufnahme in einer audiophilen Klangqualität!
Dr. Ingobert Waltenberger