CD HÄNDEL AGRIPPINA – DiDonato, Fagioli und Orliński als Superstars einer rundum geglückten neuen Gesamtaufnahme dieser schwarzen Komödie, ERATO
Veröffentlichung: 31.1.2020
Weihnachten ist zwar schon vorbei, aber manchmal geschehen in der Opernwelt noch Wunderdinge: Die neue Studioproduktion von Händels “Agrippina” ist nicht nur ein Trumpf großartiger Stimmen, sondern erlebt in der glutvollen Interpretation des jungen russischen Dirigenten Maxim Emelyachychev mit dem Originalklangensemble Il Pomo d‘Oro eine in jeder Hinsicht mustergültige Wiedergabe. Und mehr noch: Sie zeigt, dass die so oft mit den kuriosesten Abgesängen bedachte Kunstform Oper zumindest in der Alten Musik lebendiger ist denn je.
“Agrippina” ist ein Meisterwerk des erst 24-jährigen Händel. Es ist “eine Komödie von Antihelden mit einem unstillbaren Durst nach politischer und sexueller Macht, deren amoralische, niederträchtige und morbide Machenschaften als fester Bestandteil des täglichen Lebens der herrschenden Klasse in Rom dargestellt werden.” (David Vickers). Händel schrieb die vor originell kraftvoller Musik und magisch berührenden Melodien mit Hintersinn nur so strotzende Partitur in kürzester Zeit 1709 in Venedig für das Teatro Grimani di San Giovanni. Natürlich nutzte und adaptierte Händel Musik, die er schon vorher für Rom und Neapel komponiert hatte.
Das exzellente Libretto (möglicherweise des Kardinals Vincenzo Grimani) dreht sich um die machtlüsterne Julia Agrippina (vierte Ehefrau des Kaiser Claudius und Schwester Caligulas), die ihren Sohn Nero mit allen Künsten der Intrige und den kess gezinkten Karten des Machtspiels zum Kaiser machen will. Poppea und Ottone, Poppea und Nerone, Agrippina und Claudio, Narcisco und Palante, wie auch immer die ständig wechselnden Konstellationen eine typisch barocke Allegorie auf Dekadenz und Sittenverfall ergeben mögen. Am Ende heiratet Poppea Ottone und Nero wird der neue Kaiser. Das ‚glückliche‘ Rom feiert mit Tänzen. Natürlich wissen wir, dass das nicht das Ende der Geschichte ist. Nero wird später Ottone seine Poppea wegnehmen und schlussendlich die Schwangere erschlagen.
Joyce DiDonato in der Titelpartie zieht sanglich alle Register dieses weiblichen Machiavelli. Ihre Bandbreite reicht von selbstbesoffenem Pomp, giftigem Fluchen, vorgespielter Liebe bis hin zu mütterlich süßem Schmeicheln. Eine gigantische Heuchlerin, lässt sie als gar wandlungsfähige Schauspielerin im Mantel einer virtuosen Verbrecherin die Marionetten tanzen. DiDonato kann mit ihren höhentigernden Prachtmezzo schnurren und rasen, flirten und seufzen, stechen und schneiden. Ihre Arie zu Ende des ersten Akts ”Non ho cor che per amarti” beleuchtet mit Riesenscheinwerfern diesen von Händel in tönende Schräglage gesetzten fiesen Charakter. DiDonato legt mit Agrippina eine ihrer bislang besten Einspielungen vor. Jede Verzierung und Koloratur birst vor Expressivität, Überdruck inklusive. Die Amerikanerin ist mit Sicherheit ihrer Kollegin Alexandrina Pendatchanska in der von René Jacobs geleiteten insgesamt behäbigeren Aufnahme aus dem Jahr 2010 vorzuziehen.
Ihr vertrottelter, zuerst tot geglaubter, dann wieder zu den Lebenden stoßende kaiserliche Gatte Claudius wird vom italienischen Bass Luca Pisaroni mit allen Attributen der Ironie ausgestattet. Wie alle Gockeln des Stücks ist der Bezwinger Britanniens in Poppea verschossen, tappt aber armselig im Dunkel der um ihn sich drehenden Intrigen. Seine Arie “Io di Roma il Giove sono” zeigt ihn uns gerade wegen seiner Schwächen als so angeberischen Hohlkopf. “Niemand wird die Macht mit mir teilen”, dröhnt er kurz vor Ende der Oper, wo dann doch gleich Nero auf dem Thron sitzen wird. Pisaroni ist mit seinem virilen gesunden und volltönenden Bariton fast schon zu sehr Normalo für diese irrlichternde Partie.
Die Poppea der Französin Elsa Benoît ist noch nicht das verdorbene Luder der Monteverdischen Opernfigur. Vielmehr ringt sie mit den Tributen der Schönheit und was diese in der Männerwelt bewirken. Ihren Gefühle treu, liebt sie Ottone. Benoît, Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper, lässt mit ihrem runden lyrischen Sopran allen Gefühle einer noch um ihr Selbstbewusstsein im Erdendasein ringenden puren Seele freien Lauf. Besonders gefallen auch die wunderbar in die Gesanglinie eingebundenen sonor klingenden tieferen Register.
Der Pole Jakub Józef Orliński beweist nach der fabulösen Arien-CD “Facce d’amore” einmal mehr, dass er zu den besten Vertretern der jungen Generation an Altos gehört. Der Retter des Kaisers Claudius und Thronanwärter liebt Poppea mit aller Euphorie und Ängstlichkeit eines jungen Herzens. Die Arie “Voi he udite il mio lamento” gehört mit ihrer Beschwörung von erschreckenden und wilden Schatten und Gespenstern zu den aufregendsten Nummern der gesamten Oper. Die samten leuchtende Stimme passt perfekt zu dem im kaiserlichen Intrigantenstadel irrenden Jüngling.
Nerone könnte nicht besser als mit Franco Fagioli besetzt sein. Fagioli stattet den egomanen Lüstling zwischen allen erotischen Welten mit den endlosen Koloraturgirlanden seines sinnlich vibrierenden Countertenors aus. Ein Paradiesvogel und Popstar unter den Alte Musik Spezialisten. Sein immenser Stimmumfang erstaunt immer wieder aufs Neue. Der überkandidelte, an der Grenze zur Hysterie angesiedelte Vortragsstil ist für solche hypertrophe Charaktere wie dem Nero in Agrippina maßgeschneidert.
Als Palante und Narcisco sind der Bass Andrea Mastroni und der Countertenor Carlo Vistoli zu hören. In kleineren Rollen begegnen wir dem Bariton Biagio Pizzuti als Lesbo und der vibratoreich auftrumpfenden Kontraaltistin Marie-Nicole Lemieux als Giunone.
Maxim Emelyanychev, dem wir schon eine ganze Reihe erstklassiger Einspielungen verdanken (wie etwa den bei der Deutschen Grammophon erschienenen “Xerxes” von Händel) saugt mit dem Barockorchester Il Pomo d’Oro und selber am Cembalo nach einer großen Agrippina-Tournee 2019 alles Prickelnde aus dem süßen Füllhorn der Partitur. Lakritz und strenge Kammer, swingendes Augenzwinkern und den ewige Reigen erotischer Suche mal machtpolitischem Wahnsinn. Zur manchmal oberflächlich glänzenden Schönheit der Musik Händels gesellt sich dramaturgischer Sinn und klangliche Finesse. Mit den pompös bis liebreizend aufrauschenden Diven und Divos serviert er uns ein wahrlich in jeder Hinsicht kaiserliches Vergnügen.
Die Aufnahme entstand im Mahler-Saal im Kulturzentrum des südtirolerischen Toblach im Mai 2019.
Dr. Ingobert Waltenberger