CD: Gustav Mahler Sinfonien 6 und 7 / Andrea Lorenzo Scartazzini Omen und Omen-Orkus/ Jenaer Philharmonie, Simon Gaudenz, Leitung
Simon Gaudenz überzeugt mit Mahler
Die Reise geht weiter. Das mutige Label Odradek setzt seinen Mahler-Zyklus fort. Simon Gaudenz dirigiert wieder die Jenaer Philharmonie in der dritten Folge einer Reihe von Aufnahmen aller Mahler-Sinfonien, durchsetzt mit Weltersteinspielungen von Stücken von Andrea Lorenzo Scartazzini, die Mahlers Klangwelt huldigen. Dieser dritte Band enthält Mahlers sechste und siebte Sinfonie, die Sechste mit Scartazzinis „Omen“ und die Siebte mit der Komposition „Orkus“. Mahlers Sinfonien stellen ein außergewöhnliches Gesamtwerk dar, und es ist faszinierend zu hören, wie sie durch ein neues Stück kontrastiert und kommentiert werden, das speziell dazu geschaffen wurde, Licht auf diese Werke zu werfen oder ihnen Tribut zu zollen. Seit 2018 ist Andrea Lorenzo Scartazzini Composer-in-Residence der Jenaer Philharmonie und schreibt in dieser Funktion diese neuen Begleitstücke zu den einzelnen Sinfonien Mahlers, die in Jena als Zyklus in chronologischer Reihenfolge aufgeführt werden. Diese Zusammenarbeit über einen Zeitraum von sieben Jahren ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Am Ende des Zyklus stehen dann zehn neue Werke, die jeweils einzeln oder in Gruppen vor den Mahler-Sinfonien, aber auch als abendfüllende Konzertwerke aufgeführt werden können. Scartazzini hat sich von Anfang an mit Leidenschaft dieser Aufgabe verschrieben, zumal ihm Mahlers Musik besonders am Herzen liegt: „Ich habe eine tiefe Liebe zum Werk Gustav Mahlers; seine Sinfonien sind seit vielen Jahren und jedes Mal meine musikalischen Begleiter.“ „Ich höre sie noch einmal, ich bin berührt von der Fülle an Inspiration und Emotionalität“, schrieb er zu Beginn des Zyklus. Die musikalischen Vorzeichen von Scartazzinis „Omen“ deuten auf das nahende Unheil hin, das durch die berühmten Hammerschläge von Mahlers sechster Sinfonie zum Ausdruck gebracht wird. Scartazzinis Vorfreude auf diese Schläge beginnt subtil, wie er erklärt: „Mit verinnerlichten Streichersoli, sanft schimmernden Vibrafonklängen und zarten Streichertönen verharrt die Musik zunächst in einem Zustand nahezu zeitloser Intimität.“ Dies steigert sich bald zu einem Orchesteraufschrei und einer Vorahnung der Marschrhythmen von Mahlers sechster Sinfonie mit ihrem kraftvollen, oft tragischen Ton. Scartazzinis „Orkus“, der auf „Omen“ folgt, wenn er vor Mahlers Siebter gespielt wird, ist ein Nachtstück, ähnlich den Mittelsätzen in diesem Werk. Nach einem heftigen Beginn, Abwärtswirbeln und perkussiven Passagen manifestiert sich erneut der murmelnde Akkord von „Omen“. Danach beruhigt sich die Atmosphäre: „In immer stockendem Fluss erkundet die Musik die Ambivalenz der Nacht – Ruhe und innere Einkehr ebenso wie verträumte Verwirrung und Unruhe.“ Schließlich verliert sich die einsame Spur einer Bassklarinette in der Dunkelheit.“ Dies geht Mahlers siebter Sinfonie voraus, die voller betörender Kontraste zwischen Dunkelheit und Licht ist; zwischen schattenhaften Gestalten und sonnigen alpinen Anklängen. Gustav Mahlers sechste Sinfonie, als „Tragische Sinfonie“ bekannt, ist ein monumentales Werk, das zwischen 1903 und 1904 entstanden ist und zu den bedeutendsten Kompositionen der Spätromantik zählt. Diese Sinfonie, bestehend aus vier Sätzen, ist ein eindringliches musikalisches Manifest, das die Tiefen menschlicher Emotionen und die tragischen Aspekte des Lebens erkundet. Der erste Satz eröffnet die Sinfonie mit seiner kraftvollen und düsteren Atmosphäre. Ein markantes Schicksals-Motiv durchdringt diesen Satz mit hämmernden Pauken im unerbittlichen Marsch und verleiht ihm eine Aura von Unheil und Vorherbestimmung. Mahler entfesselt hier eine Vielzahl dynamischer Kontraste, die zwischen drängenden Passagen und Momenten ruhigerer Kontemplation schwanken. In dieser Aufnahme tauscht Dirigent Simon Gaudenz die Reihenfolge der Mittelsätze, wie sie ursprünglich angedacht waren. Im „Andante moderato“, tritt eine ruhigere und introspektive Stimmung ein. Dieser Satz wird oft als „Alma-Sinfonie“ bezeichnet, da Mahler ihn seiner Frau Alma widmete. Hier zeigt sich eine zärtliche und lyrische Seite des Komponisten, während er Themen von Liebe und Sehnsucht erkundet. Dennoch bleibt eine unterliegende Melancholie spürbar, die auf die düstere Atmosphäre des vorherigen Satzes verweist. Das folgende wuchtige „Scherzo“ ist von einer wilden und ungestümen Energie geprägt. Mahler verwendet hier groteske Rhythmen und scharfe Kontraste, die eine verstörende und zugleich faszinierende Atmosphäre schaffen. Das halbstündige Finale führt die Sinfonie zu einem dramatischen Höhepunkt. Mahler verschmilzt hier die Themen und Motive der vorherigen Sätze zu einem epischen und intensiven Schluss. Die musikalische Erzählung kulminiert in einem gewaltigen Ausbruch, der die Zuhörer mit seiner emotionalen Wucht überwältigt und in stiller Finsternis niederschmetternd zurücklässt. Seine sechste Sinfonie bleibt ein faszinierendes und bewegendes Werk, das die Grenzen der menschlichen Erfahrung auslotet und Generationen von Zuhörern in seinen Bann gezogen hat. Dieses Werk ist horrend schwer und stellt jedes Orchester vor maximale Herausforderungen. Simon Gaudenz und die hingebungsvolle Jenaer Philharmonie haben in ihren früheren Aufnahmen einen ausgewogenen Ansatz gewählt, der sich durch eine Zurückhaltung bei emotionalen Ausbrüchen zugunsten von Klangschönheit kennzeichnete. Doch mit ihren Interpretationen der sechsten und siebten Sinfonie vollziehen sie einen überraschenden, positiven Wendepunkt. Hier entfesselt Gaudenz mit einer starken Dynamik und Ausdruckskraft seine bisher besten Dirigate. Vollkommen befreit stürmt er mit dem Orchester durch die vielschichtigen Höhen und Tiefen dieser monumentalen Sinfonie. Endlich sind die drastischen Kontraste, die Härten und Schärfen, die vor allem in Mahlers „Tragischer“ hervortreten, präsent. Schon das rasante Grundtempo lässt erahnen, wohin die sinfonische Erzählung führt: in die Katastrophe. Gaudenz führt mit Überlegenheit, Umsicht und erfüllt die Anforderungen des Werks in jedem Moment. Die Jenaer Philharmonie ist dieser deutlicheren Forderung gewachsen und zeigt sich sowohl packend und kraftvoll in den Tutti-Passagen als auch lyrisch anmutig im Andante. Das „Scherzo“ erscheint hinreichend grotesk und die finale Apokalypse mit ihren wuchtigen Hammerschlägen erschüttert zutiefst. Das Orchester überzeugt in allen Spielgruppen und hier nun endlich auch besonders im Schlagzeug, das deutlich näher am Ohr und sonorer zu vernehmen ist als in den voraus gegangenen Aufnahmen. Diese Einspielung ist von herausragender Qualität und braucht den Vergleich mit den großen Interpreten der Vergangenheit keineswegs zu scheuen. Die siebte Sinfonie von Gustav Mahler, auch bekannt als „Lied der Nacht“, entstand zwischen 1904 und 1905. Sie hebt sich durch eine unkonventionelle Struktur und tiefgründige Ausdruckskraft hervor. Die Sinfonie besteht aus fünf Sätzen, wobei die traditionelle Reihenfolge von schnellen und langsamen Sätzen aufgebrochen wird. Diese innovative Struktur verleiht der Sinfonie eine einzigartige dynamische Spannung und eine kontinuierliche Entwicklung von Anfang bis Ende. Inhaltlich greift Mahler in dieser Sinfonie die Themen der Nacht und die düsteren als auch die mysteriösen Aspekte der Nacht musikalisch auf. Von den schillernden Klanglandschaften des ersten Satzes bis hin zu den träumerischen und gespenstischen Motiven des dritten und vierten Satzes fängt Mahler die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der Nacht in all ihren Facetten ein. Das lärmende Jubelfinale ist einer der ausgelassensten Sätze, die Mahler schrieb. Einige Dirigenten sind diesem Werk aus dem Weg gegangen, weil der interpretatorische Zugang zu beschwerlich erschien. Mahler betrat mit diesem Werk neues Terrain. Mehr Farben, fremdelnde Harmonien und immer wieder ein Auflösen von Zeit und Raum. Die Dynamik spielt dabei eine besonders große Rolle, und Simon Gaudenz nimmt Mahler nicht nur beim Wort, sondern er ergänzt mit derben, beißenden Farben in deutlichen Akzentgebungen. Am Beginn durchschreitet Gaudenz volltönend die orchestrale Welt Gustav Mahlers. In den Tempi wirkt er stets ausgewogen und wagt aber dann im finalen Rondo eine Spielweise, als gäbe es nur diesen einen Moment. Instinktsicher sein Timing, sein Innehalten und Abschattieren der Phrasierungen. Traumwandlerisch sicher geraten die dynamischen Steigerungen, im Wechselspiel mit subtilen Abbremsungen. In der ersten Nachtmusik gibt es deutliche harmonische Reibungen in Dur- und Moll-Tonalitäten, die Gaudenz klar aus musiziert. Die Herdenglocken tönten illustrativ zurückgenommen als trügerisches Idyll aus der Ferne. Gaudenz formulierte das Scherzo als gespenstisches Herzstück der Sinfonie. Die Musik rauscht und raunt grummelnd allerlei Groteskes. Ein nächtlicher, unheimlicher Spaziergang in der Natur. Bedrohliches und dann doch wieder sanft aufgelöst. Sehr zurück genommen und intim erklingt die zweite Nachtmusik mit Gitarren- und Mandolinenklängen – ein sehnsüchtiges Nachtständchen. Im Finale zeigt sich Simon Gaudenz ganz in seinem spielerischen Element. Souverän bündelt er die kollektiven Kräfte, um alle Varianten dieses höllisch schweren Satzes hörbar zu machen. Ein Lebensfest in leuchtenden Farben. Auch hier überzeugt die Jenaer Philharmonie in allen Spielgruppen mit feiner Tongebung. Dieses Orchester hat einen besonderen Klang, warm und ausgewogen, dabei stets kultiviert in der Tongebung. Gelungene klangliche Charakterisierungen durch die Musiker sowie Mut zum spielerischen Risiko ergeben ein mitreißendes Ergebnis. Alles in allem ist diese aktuelle Einspielung eine große Überraschung und interpretatorischer Markstein, zu deren gelungenem Ergebnis nur gratuliert werden kann. Ausgezeichnet ist farbige Aufnahmequalität, die alle Details der komplexen Partituren eingefangen hat. Auch das informative Beiheft dieser CD-Box ist liebevoll und lesenswert gestaltet. Es ist zu hoffen, dass zukünftige Einspielungen dieses Niveau erreichen oder sogar übertreffen können. Diese Aufnahme setzt definitiv einen hohen Maßstab für die Qualität und das Engagement der Musiker und des Produktionsteams. Möge sie nicht nur als Höhepunkt, sondern auch als Inspiration für künftige Projekte dienen.
Dirk Schauß, im März 2024
Gustav Mahler
Sinfonien 6 und 7
Andrea Lorenzo Scartazzini
Omen und Omen-Orkus
Jenaer Philharmonie
Simon Gaudenz, Leitung