CD GIUSEPPE VERDI: I LOMBARDI ALLA PRIMA CROCIATA – Live Aufnahme aus dem Münchner Prinzregententheater 23.4.2023
Veröffentlichung: 10.11.2023
Ivan Repušić, seit der Spielzeit 2017/18 Chefdirigent des Münchner Rundfunkorchesters hat schon mit seinem Antrittskonzert, das er Verdis „Luisa Miller“ widmete, klar gemacht, dass er den frühen Verdi der 1840-er Jahre besonders schätzt. Mit den am 11.2.1843, zwischen „Nabucco“ und „Ernani“ entstandenen, ein paar Tage nach dem „Fliegenden Holländer“ in Dresden uraufgeführten „I Lombardi alla prima crociata“ setzt er einen Konzert- und CD-Zyklus fort, der außer der bereits erwähnten „Luisa Miller“ noch „I Due Foscari“ und „Attila“ umfasst.
Dieser vierten Verdi-Oper, einem dramma lirico in vier Akten, liegt eine wüste Geschichte des Librettisten Temistocle Solera um in Eifersucht rivalisierende Brüder, einem zum Einsiedler mutierten Vatermörder, Kreuzzug nach Jerusalem, eine in einem antiochenischen Harem gefangene Christin und deren Befreiung, heimliche Lieben und Taufen und sonstige Bekehrungen zugrunde. Die Story endet mit dem Gott preisenden Chor ‚Te lodiamo gran Dio di vittoria‘, wo Michele Pertusi als nunmehr reumütiger Eremit vor seinem Hinscheiden noch einen letzten Blick auf die an den Mauern Jerusalems gehissten Fahnen der Kreuzfahrer werfen kann.
Das Opern-Business sollte nach dem triumphalen „Nabucco“ und dem Theatergold riechenden Scala-Impresario Bartolomeo Merelli weitergehen, am besten mit denselben Erfolgsingredienzien. Gröbere familiäre Auseinandersetzungen, Religionskonflikte, Krieg, Liebe von Mann und Frau aus verfeindeten Lagern, der Widerstreit von ichbezogenen Interessen und Gemeinschaftswohl als auch patriotisches Pathos finden sich auch in „I Lombardi“. Unnötig zu sagen, dass die Ausgrabung des ersten Kreuzzugs im elften Jahrhundert als so etwas wie ein Gleichnis für den Freiheitskampf der Italiener gegen die Österreicher aufgefasst wurde. Der Kreuzfahrerchor ‚O Signore, dal tetto natio‘, der wohl nicht zufällig wie ein Aufguss des Chors der hebräischen Sklaven in „Nabucco“ ‚Va pensiero‘ daherkommt, wurde entsprechend vom italienischen Publikum, im wahrsten Sinn des Wortes hymnisch, gefeiert.
Der überaus schillernde Solera, dessen Vater wegen patriotisch-revolutionärer Umtriebe das Gefängnis von innen kennenlernte, und dem romaneske Frauengeschichten, Duelle, Mordversuch, Unzuverlässigkeit, Geldverschwendung und Geheimagententätigkeit nachgesagt wurden, wusste genau um die Wirkung in zündende Verse gepackter rasender schwarz-weiß Gefühle, schicksalslaunischer Umschwünge, Liebeswirren, Blut, Tod und gelegentlicher Reue auf den 29-jährigen Verdi, der voller Energie und Elan auch dieser Oper einschmeichelnd melodische bzw. explosiv-emotionsgeladene Eingebungen vom Gebet bis zur Cabaletta, von abenteuerlichen Chören und eigentümlich schönen Ensembles zuteilwerden ließ. Das Aufeinanderprallen extremer Gegensätze in Glaubensfragen, die sich quer durch die Gesellschaft und Liebesbeziehungen schlängeln, ist jedenfalls thematisch so unheutig nicht.
Das dramaturgisch überspannte Irgendwie, die haarsträubenden Unwahrscheinlichkeiten, die extravaganten Charaktere (außer demjenigen der in ihrer Ambivalenz modernen Sopranheroine Giselda) und der harfenkitschig ausklingende vierte Akt dürfen insgesamt als spannendes absurd romantisches Melodram natürlich auch gefallen.
Besonders die Chöre (Prozessionschor ‚Gerusalem‘ Beginn 3. Akt!), aber auch das Duett Giselda-Oronte ‚Dove sola m’inoltro‘ und die oft chorisch verstärkten Ensembles (grandios skandiert ‚Or s’ascolti il voler cittadino‘ aus dem ersten Akt; Finale II) imponieren und zählen mit zum direkt Eingängigsten, was Verdi in diesem Stadium seiner Karriere eingefallen ist.
Die Besetzung mit Nino Machaidze als Giselda an der Spitze, die ihren Spinto genauso charaktervoll, intensiv, präzise textausdeutend, belcantesk innig (‚Salve Maria!‘) bis pfeffrig und chillischarf einzusetzen vermag wie vor ihr Deutekom, Scotto oder Meade es vorführten, ist gediegen. Die beiden von den Intervallen und den gestochenen Koloraturen her ungeheuer anspruchsvollen und ohrwurmigen Strettas ‚No! Giusta causa‘ und ‚Qual prodigo‘ schmettert Machaidze in bester Primadonnenmanier mit totalem Einsatz und hitzigem Furor.
Der technisch sauber geführte, aber zu Enge und im Forte zu herber Tongebung neigende Tenor des Piero Pretti bemüht sich als Oronte, Sohn des Tyrannen von Antiochia, um adäquaten Ausdruck, kann aber nicht mit seinen Plattenkonkurrenten Placido Domingo (Philips; Gardiner, Deutekom, London 1971) oder Luciano Pavarotti (Legato, Gavazzeni, Scotto, Rom 1969; DECCA, June Anderson, Levine, 1991) mithalten.
Dafür zeigt Bass-Urgestein und Stilist von Gnaden Michele Pertusi im Vollbesitz seiner stimmlichen Mittel, dass sogar mit der sehr eigentümlichen Partie als Arvinos Bruder Pagano, der nachdem er statt des Bruders den Vater Folco ermordet hat, zum Eremiten mutiert, sängerisch was anzufangen ist.
Arvino, den Pagano wegen Viclinda (Réka Kristóf) töten wollte und der ihm auch sonst als Anführer der lombardischen Kreuzfahrer im Weg steht, wird untypischerweise ebenfalls von einem Tenor, in diesem Fall von dem höhentigernden, in Sachen Phrasierung und musikalisch mehr als trittsicheren und noch dazu wohlklingend timbrierten Galeano Salas, verkörpert. Salas ist ein vielversprechender junger mexikanisch-amerikanischer Tenor, in dessen Terminkalender aktuell der Rodolfo in „La Bohème“ (Turin, Florenz, Dresden, Genua) die größte Rolle spielt.
Arvinos Waffenknappe Pirro, ein übler Bursche, der nichts Besseres zu tun hat, als die Intrigen des übelmeinenden Bruders Pagano zu unterstützen, wird vom ungarischen Bassbariton Miklós Sebestyén mit der passenden Härte stimmlich dunkelmächtig gestaltet.
Der heimliche Star der Aufführung ist der fantastische Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Stellario Fagone). In über 20 Tracks mitwirkend, ist der Chor in verschiedenen Figurenkonstellationen der Hauptakteur der Oper. Dieser professionelle Chor, der einfach alles kann und sowohl durch Klangqualität als auch umwerfendes Volumen exzelliert, ist alleine schon die Anschaffung des Albums wert.
Ivan Repušić dirigiert das Münchner Rundfunkorchester mit Hingabe, con brio und Kante, wie es diese effektvolle Musik zur vollen Entfaltung braucht.
Fazit: Eine willkommene Bereicherung des zwar hochkarätig, aber gering bestückten Katalogs. Die mitreißende Aufnahme beweist einmal mehr, dass „I Lombardi“ neben „Nabucco“ sehr wohl seinen Platz auf den Opernbühnen der Welt verdient hätte.
Dr. Ingobert Waltenberger