CD: Giuseppe Scarlatti: I PORTENTOSI EFFETTI DELLA MADRE NATURA • Ensemble 1700, Dorothée Oberlinger
Weltersteinspielung
Brillant-virtuosen Da-capo-Arien und buffoneske Bravourstücke
Die Aufnahme barocker Opern spriessen, wie es ein Kollege kürzlich formulierte, wie exotische Blumen hervor. So manches Gewächs erweist sich dabei als gar nicht so exotisch.
Zu diesen nur vordergründig exotischen Gewächsen zählt auch Giuseppe Scarlattis (1723-1777) Dramma giocoso per musica mit dem etwas sperrigen Titel «I portentosi effetti della Madre Natura» («Die wundersamen Wirkungen von Mutter Natur»). Das Libretto zu der seinerzeit in ganz Europa erfolgreichen Oper stammt von Carlo Goldoni (1707-1793).
Mit einer Geschichte ähnlich Rousseaus «Émile oder Über die Erziehung» schildert Goldoni höchst amüsant die wundersamen Wirkungen von Mutter Natur auf den Menschen, konkret Celidoro, den rechtmässigen Herrscher Mallorcas. Während eines Gewitters gelingt es ihm, der von Geburt an gefangengehalten nur seinen Kerkermeister Calimane kennt, sonst aber nicht einmal weiss, dass er König ist, sich zu befreien. Als erster Mensch begegnet ihm Cetronella, die ihm, der noch nie eine Frau gesehen hat, gleich wie eine Göttin vorkommt. Von unbekannten Gefühlen überwältigt, will er sie gleich heiraten, weil sie ihm klar gemacht hat, dass dies die Voraussetzung ist die Gefühle zu leben. Das ist aber weder im Sinne Cetronellas noch ihres Geliebten Poponcino. Ruggiero, der anstelle Celidoros auf Mallorca herrscht, versucht seine wegen des Verschwinden Celidoros nervöse Gattin Lisaura zu beruhigen, sie ahnt Böses, da Celidoro von Ruggieros Vater eingesperrt und um sein Erbe gebracht wurde. Zudem hat ihr Ruggiero, notorischer Schürzenjäger, in Ruspolina ein neues Objekt der Begierde entdeckt. Calimanes vermeintliche Tochter Dorina verhindert einen Mordanschlag Ruggieros auf Ceelidoro. Da möchte Celidoro natürlich sie heiraten und läuft, als er gegen einen vermeintlichen Feind losstürmt, Ruspolina in die Arme, die er – man ahnt es – dann auch sofort heiraten will. Calimane hat begonnen Celidoro aufzuklären, ist aber noch längst nicht fertig. So führen in Ruspolina und Cetronella, die hinzugekommen ist, ihn in die Regeln der Galanterie ein – bis er um Gnade und Mitgefühl fleht.
Ruggiero hat Dorina gefangengenommen und versucht, erfolglos, Calimane zu erpressen. Calimane klärt Celidoro weiter auf: Dorina ist seine Schwester und Ruggiero ist der, der ihn um sein Erbe betrogen hat. Celidoro entschliesst sich für sein Erbe zu kämpfen und würde am liebsten Cetronella und Ruspolina zu Königin machen. Eine Frau wählen zu müssen, scheint ihm unnatürlich und so finden sich die beiden Damen als Rivalinnen wieder. Die vernachlässigte Lisaura schäumt vor Eifersucht und lässt beide einkerkern, die Celidoro nach seinem Sieg über Ruggiero wieder befreit. Poponcino pocht auf seinen Anteil an der Befreiung und schlägt vor, das Los entscheiden zu lassen, wer Königin wird. Ruggiero hat aber noch nicht aufgegeben und versucht einen weiteren Anschlag auf Celidoro, den Cetronella verhindert. Celidoro demütigt Ruggiero, in dem er ihm das Leben schenkt. Nun sind Verhältnisse klar: Cetronella wird Königin und Gattin Celidoros, Ruspolina muss mit Poponcino vorliebnehmen und Ruggiero und Lisaura erhalten die Ostküste der Insel als eigenes Reich. Man feiert die wundersamen Wirkungen von Mutter Natur, die alles zum Besten gerichtet hat.
Zum durchschlagenden Erfolg der Oper hat einerseits beigetragen, dass ganz Europa versessen auf das neue Unterhaltungstheater aus Venedig war. Nach dem Dreissigjährigen Krieg (und dem damit verbundenen dauerhaften Wegbrechen der Absatzmärkte des Fernhandels) und der Ausbreitung der Osmanen im östlichen Mittelmeer hatte sich Venedig als Vergnügungszentrum neu erfunden und wurde zum einer fixen Station der Grand Tour. Andererseits galt schon damals «Sex sells» und so nutzte Goldoni das Arkadien, um mit sonst verpönten Sehnsüchten die Phantasie der Zuschauer anzufeuern. Uraufgeführt wurde die Oper 1752 in Venedig. 1763 wurde mit Scarlattis Dramma giocoso per musica nach dem Siebenjährigen Krieg der Opernbetrieb in Berlin wiederaufgenommen. 1768 wurde es dann auch im neuen Schlosstheater von Sanssouci aufgeführt. Für die Aufführungen im Schlosstheater Potsdam im Jahr 2022 erstellte der Giuseppe-Scarlatti-Spezialist Francesco Russo eine moderne Edition auf deren Basis dann mit dem Ziel möglichst viel originaler Musik zu erhalten die Spielfassung erstellt wurde. Von brillant-virtuosen Da-capo-Arien über freier gestaltete Nummern mit häufigen Stimmungs- und Tempowechseln oder buffoneske Bravourstücke bis hin zu aktionsreichen Ensembles, die energisch die Handlung vorantreiben, ist in Scarlattis Oper alles enthalten, was des Melomanen Herz begehrt.
Das Ensemble 1700 unter musikalischer Leitung seiner Gründerin Dorothée Oberlinger mit brennender Leidenschaft wunderbar farbig und rehabilitiert das Werk auf ganzer Linie. Oberlinger ist es wieder gelungen ein Ensemble ausgewiesener Spezialisten zu versammeln, dem die Wiederentdeckung des Werks hörbar am Herzen liegt. Rupert Charlesworth singt den Celidoro mit elegant geführtem, strahlendem und absolut höhensicherem Tenor. Filippo Mineccia gibt den Ruggiero mit einem wunderbar schillernden, bestens geführtem Altus. Roberta Mameli ist eine Lisaura mit wunderbar agilem, herrlichen Koloratursopran. Benedetta Mazzucato gibt die Cetronella mit elegant geführtem Mezzo. Maria Ladurner als Ruspolina tendiert mit ihrem klaren Sopran in Richtung Soubrette. Niccolò Porcedda gibt mit seinem hellen, für heutige Verhältnisse fast tenoralem Bariton den Poponcino. Dana Marbach als Dorina und João Fernandes als Calimone ergänzen das formidable Ensemble.
Dieser vergessene Meister lohnt der Wiederentdeckung!
17.06.2023, Jan Krobot/Zürich