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CD: GISMONDO, RE DI POLONIA

19.05.2020 | cd, CD/DVD/BUCH/Apps

Leonardo Vinci
GISMONDO, RE DI POLONIA
3 CDs mit ausführlichem Booklet
Parnassus Arts Productions

Leonardo Vinci (1690-1730) war unter den Komponisten des Barocks eine Spätentdeckung für unsere Interpreten und Konzertsäle. Vom Geburtsdatum her ist er fünf Jahre jünger als Händel, fällt also in die hohe Zeit barocker Musik und barocker Oper. Er begann in Neapel mit heiteren Werken, wandte sich aber bald der Opera seria zu.

Diese seiner Meisterwerke wurden meist in Rom uraufgeführt – und in unserer Zeit ist es der Countertenor Max Emanuel Cencic, der neben den „obligaten“ Klassikern auch immer wieder das für uns (noch) Rare suchte und nach Ataserse“ (2012) und „Catone in Utica“ (2015) mit Gismondo, re di Polonia“ das dritte Werk dieses Komponisten der Vergessenheit entriß. Er hat es in einer langen Reihe von konzertanten Aufführungen präsentiert (er war damit auch 2018 überaus erfolgreich im Theater an der Wien zu hören) und wird dies „nach Corona“ vermutlich weiterhin tun.

Nun hat er dieses Werk mit seinem eigenen Label „Parnassus Arts Productions“ herausgebracht, und wenn man diese CD in den Händen hält, ist vieles ungewöhnlich. Zuerst die Liebe, die Sorgfalt, der Aufwand, mit der man die drei CDs „ummantelt“ hat. Hier begnügt man sich nicht, wie so oft, mit einem Beilage-Zettel oder einem Mini-Booklet, da ist das ganze Produkt ein „Buch“ in CD-Größe, wo auf eine ausführliche, tiefschürfende Einleitung dann das komplette Libretto folgt – und zwar nicht nur Italienisch / Deutsch, sondern auch auf Englisch und Polnisch.

Denn von Anfang an hat Cencic in die „polnische“ Geschichte, die Librettist Francesco Briani für diese 1727 in Rom uraufgeführte Oper geschrieben hat, ein polnisches Orchester, eine polnische Dirigentin sowie eine polnische Sängerin einbezogen, auch wenn – das sei ehrlich gesagt – die Haupt- und Staatsaktion zwischen König Sigismund (Gismondo) und dem litauischen Fürsten Primislaus (Primislao) nicht wirklich essentiell für den Charakter des Werks ist – ähnlich schöne, lyrische und dramatische Musik (mit den ganz besonders ausdrucksvollen Koloraturen) hätte Vinci auch für einen biblischen oder mythologischen Stoff schreiben können, stehen dann ja doch die verwirrenden Liebesgeschichten im Zentrum…

Dennoch, man wird nicht darum herum kommen, sich starke Brillen oder gar ein Vergrößerungsglas her zu nehmen (das CD-Format bedingt eine sehr kleine Schrift), um die Geschichte mitzulesen – aus einem ganz einfachen Grund: Um die durchwegs hervorragenden Sänger unterscheiden können. Denn, was einem „ab Mozart“ nicht mehr passiert, dass man einzelne Stimmen und Figuren nicht unterscheiden kann, hier ist es der Fall, wo Frauen Männerrollen singen und die geballt eingesetzten Countertenöre in ihrer Pracht oft nicht von Frauenstimmen zu unterscheiden sind…

Wie schon bei der Live-Begegnung fest gestellt, hat sich Max Emanuel Cencic um des Werkes willen als Person hintangestellt, weil der Titelheld keinesfalls die „dramatischste“ Rolle hat, was Cencic nicht daran hindert, seine wunderbare Stimme zu entfalten. Allerdings hat die Aufnahme noch drei weitere Countertenöre zu bieten (wenn auch durchaus mit eigenen stimmlichen Charakteristika), und da ist der Ukrainer Yuriy Mynenko in der Rolle des Liebhabers Ottone eine akustische Wonne, der auch annähernd Virtuoses (Vinci ist da nie so extrem wie Händel, ordnet die stimmlichen Kunststücke dem lyrischen Charakter unter) in schmelzende Schönheit gießt. Countertenor Nr. 3 und 4, Jake Arditti und Nicholas Tamagna, machen das Quartett dieser erstaunlichen Stimmen komplett.

Der große, böse Gegenspieler, Primislao, bekommt dann durch Aleksandra Kubas-Kruk eine dramatische Frauenstimme. Bleiben gerade zwei Soprane, die allerdings viele Möglichkeiten bekommen, Sophie Junker die dramatischeren, Dilyara Idrisova die jugendlich strahlenden.

Schon bei der konzertanten Aufführung fiel auf, wie straff und entschlossen der Orchesterklang auf den Hörer zukommt, energisch, aber doch einfühlsam. Das polnische Orchester {oh!} Orkiestra Historyczna (der Name erscheint uns wohl etwas seltsam) realisiert unter seiner Konzertmeisterin / Dirigentin Martyna Pastuszka Vincis Musik in ihrer Vielfalt, nicht nur die gelegentlich aufstrahlenden, klassischen Barock-Trompeten, sondern auch die ausdifferenzierten Stimmungslagen der einzelnen Figuren und Personen. Deutlich wird jedenfalls, dass unter den Barockkomponisten dieser Vinci über einen ganz besonderen Ton, Klang, um nicht „Sound“ zu sagen, verfügt. Und das ist auch musikhistorisch eine Erkenntnis, für die man dieser Aufnahme Dank sagen sollte.

Es sind drei CDs, es ist ein vielstündiges Vergnügen, für das man sich Zeit nehmen sollte, einen langen Nachmittag oder einen dem Werk gewidmeten Abend, der es wert ist, in Ruhe genossen zu werden.

Renate Wagner

 

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