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CD GEORG FRIEDRICH HÄNDEL: SEMELE – LOUISE ALDER, HUGO HYMAS, LUCILE RICHARDOT; JOHN ELIOT GARDINER; Soli Deo Gloria

18.10.2020 | Allgemein, cd

CD GEORG FRIEDRICH HÄNDEL: SEMELE – LOUISE ALDER, HUGO HYMAS, LUCILE RICHARDOT; JOHN ELIOT GARDINER; Soli Deo Gloria

 

Live Mitschnitt vom Mai 2019 aus dem  Alexandra Palace Theatre London

 

Veröffentlichung: 30.10.2020

 

Semele, ähnlich unbedarft und naiv wie Elsa (Lohengrin), verdanken wir wenigstens den göttlichen Wein. Apollo sollte mit seiner Prophezeiung Recht behalten, dass Bacchus aus Semeles Asche aufsteigen wird, um der Erde ein Vergnügen mächtiger als Liebe (und jeder Corona Tristesse trotzend) zu bringen. 

 

Freilich ist es nicht ganz clever, sich lustvoll und lautstark im Bett mit Jupiter auf dem Berg Kithairon zu wälzen („Endless pleasure, endless love, Semele enjoys above“) und im nächsten Augenblick den Ratschlägen der gleichermaßen tödlich eifersüchtig wie durchtriebenen Gattin Juno zu folgen. Was dieses Flintenweib so alles anstiften kann, hat der zart besaitete Opernfreund schon in Rameaus „Platée“ tränenreich erleben müssen.

 

In Händels erster englischsprachiger Oper aus 1743 aktiviert Juno den Gott des Schlafes Somnus, der als Gegenleistung für die lästige Störung seine Lieblingsnymphe Pasithea haben will. Somnus wird also Jupiter in mächtig erotischen Träumen schmachten lassen, die der potente Gott sofort mit Semele ausleben will. Blöd nur, dass Semele Jupiters sexuelle Gelüste zurückweist und zuvor verlangt, dass sich der von Donner und Blitz umgebene Jupiter  sich in seiner wahren Gestalt zeigt. So glaubt die ehrgeizige Semele nach den Worten der Juno unsterblich werden zu können. Irgendwie ist die Rechnung ja aufgegangen, aber nicht so, wie Semele sich das vorgestellt haben mag. 

 

Die Königstochter Semele ist aber ohnedies ein schamloses Luder, lässt sie doch ihren Verlobten Athamas während der Hochzeitszeremonie kurzerhand stehen, um sich von diesem riesigen Adler mit purpurfarbenen Schwingen, umgeben von azurblauen Flammen, in himmlischen Duft und köstlichen Tau gehüllt, entführen zu lassen. Das Ende ist weniger romantisch: Als die Jupitersche Feuerwolke herabfährt, stirbt Semele in den Flammen. Wir erfreuen uns indes noch immer an den Früchten und vergorenen Säften dieser trunken machenden, feucht-schlüpfrigen Geschichte.

 

Das Libretto des Bühnenautors William Congreve nach den von Ovid überlieferten Begebenheiten ist voll prallen Lebens abseits aristokratischer Huldigung, die Musik, die Händel dazu in einem Monat mit Gänsefeder und Tinte aufs Papier brachte, wahrscheinlich seine  beste überhaupt. Wir stimmen mit David Vickers, Mitherausgeber der Cambridge Händel Encyclopedia, überein, der konstatiert, dass „die Musik Händels messerscharfe, dramatische Instinkte beweist: zweifelsohne ergötzte er sich an den verschiedenen Zutaten des Librettos: übernatürliche Begebenheiten, herzlicher Humor, extrovertierter Esprit, erotische Zärtlichkeit, unerfülltes Sehnen, mörderische Eifersucht, kokette Eitelkeit, tragische Verletzlichkeit, Euphorie und Verlust.“ „Götter und Sterbliche agieren auf ein und derselben Ebene, sie benehmen sich schlecht und leidenschaftlich, aber auf eine Art und Weise, mit der jeder – bis auf das missmutige Publikum der damaligen Zeit oder später die scheinheiligen Viktorianer – etwas anfangen kann.“ beschreibt Dirigent John Eliot Gardiner seine Faszination für das Werk.  

 

Die Arie etwa der Semele „No, no I‘ll take no less“ im dritten Akt birst gleichsam im Koloraturwahnsinn vor Selbstüberhebung und hysterisch ostentativem Bestemm der Titelheldin. Raum für lautmalerisch drastische Rezitative gibt überall: Wir erleben in Disney Manier gar schreckliche Drachen mit ihren „thousand fiery eyes which never know repose“ oder die Höhle des Somnus, die trotz Junos „Somnus arise“ (hier drängt sich eine Assoziation  zu Wagner und dessen feierlich träger Tonsprache des Fafner im „Siegfried“ förmlich auf) vorerst in der Apathie des göttlichen Schläfers verharrt.

 

Natürlich gibt es auch großartige Chöre mit Trompeten, Glanz und Gloria, so wie  „Bless the glad earth with heav‘nly lays, and to that pitch th‘eternal accents raise, that all appear divine!“ oder den finalen Jubelchor der Schäfer und Nymphen „Happy, happy we shall be“, ideale Paradestücke des in diesem Repertoire unüberbietbaren Monteverdi Choirs. Der seit über 50 Jahren existierende englische Kammerchor war lange Zeit mit dem Schwedischen Rundfunkchor Messlatte für allerhöchste Chorkultur und hat in all dieser Zeit nichts von seiner Qualität verloren.

 

Die English Baroque Solists unter John Eliot Gardiner bringen all das zur Vollendung, was sie mit ihrer vor fast 40 Jahren entstandenen Erstaufführung- und einspielung dieser Oper (für das Label Erato mit Burrowes, Kwella, Jones, Priday, Penrose, Rolfe-Johnson, Lloyd, Thomas) begonnen haben.

 

Die Solistenschar wird von der Sopranistin Louise Alder in der Titelrolle angeführt. Mit ihrem das Ohr umschmeichelnden, koloraturfähigen lyrischen Sopran vermag sie alle tausend Ausdrucksnuancen dieser nach Höherem strebenden, sinnlich törichten Verführerin plastisch zu vermitteln. Der britische Tenor Hugo Hymas bringt in seinen Jupiter die doch sehr menschlichen Regungen der ausweglosen Verzweiflung ein, als er erkennen muss, dass seine geliebte Semele sterben muss („Ah, take heed what you press“). Der französische Mezzosopran Lucile Richardots erfüllt als Juno/Ino die stereotypen, nichtsdestoweniger beeindruckenden Atouts eines zänkischen Biests in Mörderabsicht. Wir fühlen uns bei dieser üppigen Stimmgebung und zupackend wütenden Koloratur an die besten Zeiten von Marilyn Horne erinnert. Gianluca Buratto in der Doppelrolle des Cadmus und Somnus orgelt sich mit seinem samtig sanften Bass in tiefsten Lagen raunend in unser Gemüt. Carlo Vistali als Athamas, Emily Owen als Iris, Angela Hicks als Cupid, Peter Davoren als Apollo, Anghard Rowlands als Augur und Dan D‘Souza als High Priest singen nicht nur ihre vertrackten Läufe in den Arien, sondern vermitteln wie die gesamte Besetzung die besondere Rhetorik Händels aufs Eindringlichste.

 

Für mich, soweit absehbar und durch eigenes Hören verifizierbar, die bislang beste Barockopern- Einspielung des Jahres!

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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