CD FORGOTTEN ARIAS: PHILIPPE JAROUSSKY mit spätbarocken Arien nach Texten von Pietro Metastasio, Weltersteinspielungen; Erato
Archivforscher, Raritätensammler, Partiturenbummler
Entriss Jakub Jozef Orlinski mit seinem jüngsten Albumhit „Beyond“ frühbarocke italienische Vokalmusik dem Vergessen, so macht der französische Countertenor-Altstar Philippe Jaroussky nun mit dem Programm “Forgotten rias“ spätbarocke Arienschätze einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Alle zehn Arien sind überhaupt zum ersten Mal auf Tonträger verewigt.
Countertenöre gehören zu den wichtigsten Mittlern und Entdeckern der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, sei es auf der Bühne oder im Plattenstudio. In der Nachfolge von historisch glorifizierten Kastratenstars sind sie neben ihren weiblichen Kolleginnen aus dem Kontraaltfach die virtuosen Gurgelakrobaten, die koloraturgespickte Läufe und scheinbar endlose Legatophrasen so aufregend servieren, dass Spezialfestivals, wie die Innsbrucker Festwochen Alter Musik, Bayreuth Baroque, zahllose Veranstaltungen in Frankreich (z.B.: Festivals von Royaumont und Ambronay) und Spanien bzw. die Barocktage der Berliner Staatsoper Unter den Linden Hochkonjunktur haben.
Philippe Jaroussky war seit jeher einer der musikalischsten aller Alte Musik Vokalisten, mit einem hell-engelsgleichen Timbre, technisch makellosem Vortrag, lupenreiner Intonation und einem enormen Stimmumfang gesegnet. Der 45-jährige Sänger, der außer Gesang Klavier und Geige lernte und seit 2021 auch als Dirigent auf sich aufmerksam macht, kann auf eine immense Diskographie zurückblicken. In seinem neuen Album mit dem selbsterklärenden Titel „Vergessen“ interessiert er sich für Arien, deren Texte allesamt von einem gewissen Pietro Antonio Domenico Bonaventura Trapassi, bekannter als Pietro Metastasio, stammen. Metastasio war als Librettist so unglaublich erfolgreich, dass manche seiner Textbücher über 90-mal vertont wurden. Dazu zählen etwa „L’Olimpiade“ oder „Artaserse“. Von „L’Olimpiade“ gibt es immerhin Gesamtaufnahmen der entsprechenden Opern von Hasse, Pergolesi, Galuppi oder Myslivecek, „Artaserse“ ist im Katalog u.a. mit Vertonungen eines Vinci oder Hasse vertreten. In der 2012 erschienenen Gesamteinspielung von Hasses „Artaserse“ (Vinci) ist Jaroussky in der Titelpartie zu hören.
Für „Forgotten Arias“ hat Jaroussky „Olimpiade“ Partituren von Andrea Bernasconi und Tommaso Traetta aufgestöbert, zu „Artaserse“ stellt er Arien aus den jeweiligen Opern von Johann Christian Bach und Niccolò Jommelli vor. Dass es dem Publikum bei den immer selben Stücken und Texten nicht langweilig wurde, dafür sorgte schon das gesunde Konkurrenzverhältnis der Tonsetzer, die sich in Sachen Anspruch und Originalität von ihren Vorgängern künstlerisch positiv unterscheiden wollten. Der schöpferischen Fantasie war somit keine Grenzen gesetzt, was auch in der Auswahl für das Album sofort auffällt: Da hören wir die repetitiven Klagen des von seiner Geliebten betrogenen und verhöhnten Arbace aus Niccolò Piccinis „Catone in Utica“, das melancholische ‚Suol può dir come si trova‘ des Agenore aus Glucks „Il re pastore“ oder das aus dem Jenseits vom verstorbenen Sesto geflüsterte ‚Se mai senti spirarti sul volto‘ aus Michelangelo Valentinis „La clemenza di Tito“.
Meine Lieblingsarie ist ‚Gelida in ogni vena‘ von Giovanni Battista Ferrandini, entnommen einer Sammlung von 24 Arien, nach einem Poem von Metastasio aus „Siroe, re di persia“. In dieser über 11 Minuten langen väterlichen Totenklage imitieren die tiefen Streicher rhythmisch den pochenden Herzschlag, während elegisch strömende Lamenti, untersetzt von kurzen dramatischen Einschüben die verschiedenen Stadien des Schmerzes, des Verlusts ausdrücken.
Die umfangreichsten Auszüge sind Johann Adolph Hasses „Demofonte“ gewidmet. Der dreiteiligen Sinfonia folgen die Arien ‚Sperai vicino il lido‘ und ‚Misero pargoletto‘, die der Komponist dem Kastraten Giovanni Carestini auf den Leib komponiert hat. Ganz dem galanten Stil verpflichtet, finden wir hier lautmalerisches Meerestosen wie innigste Harmonien, wenn Timante fleht, dass sein Sohn nicht erfahren möge, dass er möglicherweise mit der Schwester des Vaters gezeugt wurde.
Philippe Jaroussky, im Ernte-Spätsommer seiner unglaublichen Karriere angekommen, fasziniert mit der Eleganz der Verzierungen als auch wunderschön gespannten Pianobögen. Sein aparter Countertenor hat an genussvoll abgemischten Abschattierungen noch zugelegt, die Ausdruckspalette mit der so besonderen Humanitas in der Stimme scheint schier unerschöpflich. Und wenn die Stimme einmal nicht mehr ganz so spielerisch anspringt wie vor 20 Jahren, dann macht es der Könner mit Raffinesse und Gestaltungsintensität wett.
Begleitet wird Jaroussky vom prächtig schwungelastisch auf historischen Instrumenten spielenden Ensemble Le Concert de la Loge unter der spannungsgeladenen Leitung seines Gründers Julien Chauvin.
Empfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger