CD/DVD „DOPPELGÄNGER“: JONAS KAUFMANN singt Lieder von ROBERT SCHUMANN und FRANZ SCHUBERT; Sony
„Du Doppeltgänger! du bleicher Geselle! Was äffst du nach mein Liebesleid, das mich gequält auf dieser Stelle, so manche Nacht, in alter Zeit?“ Heinrich Heine
Das Unverwechselbare an der vorliegenden Publikation ist die Vergleichsmöglichkeit von Jonas Kaufmann als Liedsänger 1996, 2020 und 2023. Noch dazu, weil sechs Lieder aus Robert Schumanns „Dichterliebe“ Jonas Kaufmann als Student 1994 mit Jan Philip Schulze am Klavier und den reifen Sänger 2020/2023 (Aufnahmedatum der Gesamteinspielungen von „Dichterliebe“, der zwölf Gedichte des „Kerner-Lieder“ und des Videos „Schwanengesang“) zeigen, naturgemäß in höchst unterschiedlicher stimmlicher Verfassung.
Die erwähnte DVD ist ein Live-Mitschnitt einer von Regisseur Claus Guth dramatisierten Bühnenfassung von Franz Schuberts “Schwanengesang“ samt zweitem Satz aus dessen Klaviersonate in B-Dur, D. 960, aus der Park Avenue Armory Halle (ehemalige ‚Drillhalle‘ der Waffenkammer) vom September 2023.
70 weißmetallene Spitalsbetten in Reih und Glied mit Verwundeten und Versehrten von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs bilden den optischen Ausgangspunkt der düsteren Inszenierung. Jonas Kaufmann ist einer der bedauernswert erschöpften Kriegsheimkehrer. Als solcher irrt zwischen er zwischen den sterilen, zunehmend ‚verrückten‘, am Ende aufgekippten Betten. Der Soldat erinnert sich schmerzvoll an verschiedene Momente, die in den 14 Liedern (ergänzt um „Herbst“, D. 945) episodenhaft aufpoppen. Als traumatisierte, verletzte Militärangehörige und helfende Krankenschwestern fungieren professionelle Tänzer.
Der beklemmende Effekt der Aufführung ist der intensiven Bewegungs- und Lichtregie, dem Schatten eines todbringenden Bombers als auch der Wirkung des jäh einfallenden Lichts zum „Doppelgänger“ von der Lexington Avenue zurückzuführen. Jonas Kaufmann erinnert sich: „Diesen Einbruch der Realität in das Bühnengeschehen haben viele Zuschauer als unvergessliches Erlebnis beschrieben.“
Wie bei der Studioproduktion von „Dichterliebe“ und „Kerner-Lieder“ ist Kaufmanns Partner Helmut Deutsch am Klavier ein verlässlicher und sensibler Partner. Elektronische Klänge und Geräusche (sog. „Soundscapes“) sowie das zeitvergessene Andante sostenuto aus der Klaviersonate D. 960 sind integraler Teil der musikalischen Seite der Inszenierung. Die Reihenfolge der Lieder weicht erheblich von der vom Verleger Tobias Haslinger gewählten Abfolge ab.
Bei der Meinungsbildung über die Liedgestaltung von Jonas Kaufmann 1994, 2020 und 2023 sollte seine gesamte, repertoiremäßig und stilistisch außergewöhnlich vielfältige Karriere nicht außer Acht gelassen werden. Die Stimmfetischisten der reinen Lehre und die große Fangemeinde werden in dieser Hinsicht wahrscheinlich auf keinen gemeinsamen Nenner kommen.
Grundsätzlich scheinen Jonas Kaufmanns Stimmen 1994 und 2023 nichts miteinander gemeinsam zu haben, so völlig unterschiedlich sind sie vom Stimmcharakter und vom Timbre her. Das fühlt sich so gewaltig anders wie bei Gwyneth Jones, sollte jemand die Mezzo-Bänder der frühen 60er Jahre (Carmen & Co) kennen und sie etwa mit den späten Ortruds in den 90-er Jahren vergleichen wollen.
Ein weiterer, allen zugänglicher Vergleich von Jonas Kaufmann auf Youtube als Interpret der „Dichterliebe“ als Zwischenstufe im Jahr 2001 ergänzt das Bild. Da sang Jonas Kaufmann, schon damals begleitet von Helmut Deutsch, Schumanns „Dichterliebe“ am 28.6. in der Klosterkirche Altstadt der Weingemeinde Hammelburg anlässlich des Kissinger Sommers. Grandiose Sache und in jeglicher Hinsicht aufregend mit Kaufmanns völlig intakten vokalen Mitteln.
Gehen wir noch weiter zurück: Kaufmann startete – wie auf den klangtechnisch nicht sonderlich guten Kostproben 1994 zu hören ist – als heller lyrischer Tenor mit gut ausbalanciertem Stimmsitz und einer fulminanten, leichtgängigen Höhe. In genau dieser „prime time“ habe ich ihn 2007 in Paris als Alfredo in Verdis „La Traviata“ und ebenda 2010 als Werther an der Opéra national de Paris erlebt. Diese Auftritte und viele andere als Cavaradossi, Don José, Don Carlo, als Solist im „Verdi-Requiem“ oder Mahlers „Lied von der Erde“, um nur einige besonders erfolgreiche Rollen-Inkarnationen zu nennen, begründeten zurecht den Weltruf des Tenors.
Kaufmanns kometenhafter Aufstieg stützte sich zudem auf einen medialen Hype sondergleichen, der bewirkte, dass beinahe überall da, wo der zum Star avancierte Sänger auftrat, Mikros und Kameras dabei waren. Die PR-Maschinerie lief gut geölt. Der Sänger wagte sich zunehmend h an populäre Projekte, wie „Dolce vita“ oder „The Sound of Movies“ heran.
Nach und nach kam das schwerere Wagner-Fach mit Lohengrin, Parsifal, Siegmund und Stolzing hinzu, zu denen sich schlussendlich die anstrengenden heldentenoralen Partien von Otello, Tristan und Tannhäuser gesellten. Die Stimme entwickelte sich, wurde baritonaler, sein Gesang robuster, dunkler, dramatischer, aber auch weniger flexibel, vor allem in der Höhe fragiler, gepresster und angestrengter.
Aber Jonas Kaufmann hat sich all diesen Wandlungen zum Trotz (vielleicht war die eine oder andere auch zu belastend) immer um unmittelbaren Ausdruck und Intensität bemüht. Das kommt auch der vorliegenden „Dichterliebe“ und den „Kerner-Liedern“ zugute. Und natürlich lagen ihm 2023 ebenso als filmischer „Doppelgänger“ die dramatischeren Brocken wie „Aufenthalt“ der „Der Atlas“ besser in der Kehle als die lyrischen Lieder „Liebesbotschaft“ oder „Am Meer“.
Fazit: Diskussionswürdige Liedaufnahmen eines in Anbetracht seines immensen Lebenswerks großen Sängers mit heldischem, baritonal gewordenem Tenor im Herbst seiner Karriere. Kaufmann weiß als Ausdruckskünstler mit packender Intensität und vollem Einsatz sowie charakteristischen Klangfarben zu bestehen. Die sangliche Qualität schwankt bei den einzelnen Titeln enorm. Ob das insgesamt genügt und befriedigt, möge jeder und jede anhand des angebotenen Nebeneinanders für sich selbst entscheiden. Mich persönlich macht das Album nicht glücklich.
Dr. Ingobert Waltenberger