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CD: Charles Koechlin Orchesterwerke und Lieder Ariane Matiakh, musikalische Leitung Capriccio, C5533

05.05.2025 | Allgemein, cd

Im Bann des Unbekannten – Ariane Matiakh entdeckt Charles Koechlin

koch

In einer Klanglandschaft, die oft von den immergleichen Namen beherrscht wird, leuchtet diese Capriccio-Einspielung wie ein kostbarer, bislang ungeschliffener Edelstein: Charles Koechlins Musik, dirigiert von Ariane Matiakh, gespielt von der Württembergischen Philharmonie Reutlingen und gekrönt von der Stimme Patricia Petibons – das ist eine Einladung in ein musikalisches Universum, das sich nur jenen erschließt, die bereit sind, die gewohnten Pfade zu verlassen.

Charles Koechlin (1867–1950) war ein Sonderling – ein suchender Geist, der sich weder von akademischen Dogmen noch von modischen Strömungen vereinnahmen ließ. Schüler Faurés, Freund Roussels, Lehrer von Poulenc, Bewunderer Bachs wie auch Debussys – Koechlin war ein musikalischer Kosmopolit, dessen Werk zwischen kontrapunktischer Strenge und impressionistischer Schwebe oszilliert. Er komponierte über 200 Werke, darunter Filmmusikskizzen für einen nie realisierten Tarzan-Film oder eine „Symphonie des sept étoiles“, inspiriert von Hollywoodstars. Und doch blieb er zeitlebens ein Außenseiter – zu eigensinnig, zu wenig greifbar für eine Musikwelt, die nach Etiketten verlangt.

Diese Aufnahme lässt ihn endlich in einem verdienten Licht erstrahlen. Den Auftakt macht „Au loin“, ein sinfonisches Poem, das wie ein ferner Ruf aus einer anderen Welt wirkt – schimmernd, flüchtig, von rätselhafter Schönheit. Ariane Matiakh trifft den Ton sofort: Sie lässt das Orchester atmen, gibt Raum für Farben, für changierende Lichtverhältnisse. Die Württembergische Philharmonie Reutlingen agiert mit feinem Gespür für Klangbalance, der Streicherklang bleibt stets durchlässig, die Holzbläser malen in pastellenen Tönen.

Herzstück der CD ist die Sinfonie Nr. 1, ein gewaltiger, dennoch intimer Kosmos, dessen Aufnahme nun endlich eine Lücke schließt. Fast ein Jahrhundert hat es gedauert, bis dieses Werk in einer Einspielung erschien, die seiner Komplexität und Poesie gerecht wird. Die Sinfonie ist in vier Sätze gegliedert, doch Koechlins Denken ist nicht streng architektonisch, sondern organisch: Themen entstehen wie Nebelschwaden, entwickeln sich langsam, verästeln sich, verschwinden wieder im Halbdunkel. Matiakh gelingt es, diese flüchtige Form zu fassen, ohne sie zu beschneiden.

Was diese Einspielung jedoch besonders macht, ist die Hingabe und gestalterische Reife der Württembergischen Philharmonie Reutlingen, die sich diesem Repertoire mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit nähert. Hier spielt kein Prestige-Ensemble aus der Hauptstadt, sondern ein Orchester, das durch klangliche Sorgfalt, kluge Phrasierung und bemerkenswerte Präzision überzeugt. Besonders in den großflächigen Entwicklungen des ersten und dritten Satzes beeindruckt die Fähigkeit der Musiker, Klangräume entstehen zu lassen, ohne sie zu überfrachten. Die Streicher zeigen Wärme und Tiefe, ohne zu schwelgen, die Holzbläser agieren wie Kommentatoren aus dem Off – nie dominant, aber stets präsent. Auch in den rhythmisch komplexeren Passagen des Finalsatzes bewahren die Musiker unter Matiakhs klarer Führung Transparenz und Struktur. Es ist eine stille Meisterschaft, die nicht glänzen will, sondern leuchten darf.

Ein besonderes Juwel sind die „Trois Mélodies“ Op. 17, die Patricia Petibon in ihrer unnachahmlichen Weise interpretiert. Die Lieder wurden erst posthum orchestriert, doch sie fügen sich nahtlos in das klangliche Gesamtbild. Petibon gestaltet mit Textbewusstsein, Leichtigkeit und einer beinahe überirdischen Empfindsamkeit. Ihre Stimme ist kein Instrument der Selbstinszenierung, sondern eine Art seelischer Seismograph, der jedes Zittern in der Poesie aufnimmt und zum Klingen bringt. In den „Mélodies“ verschmilzt sie mit dem Orchester zu einem einzigen Klangkörper, mal entrückt, mal greifbar menschlich.

Die Aufnahme profitiert enorm von ihrer natürlichen, warmen Klanggestaltung. Der Tonmeister hat sich hier nicht auf spektakuläre Effekte verlassen, sondern auf die Authentizität der Interpretation – man hört die Luft zwischen den Instrumenten, das Atmen, das organische Pulsieren eines echten Ensembles. Das Ergebnis ist eine berührende, ja intime Nähe zur Musik.

Diese CD ist keine schnelle Kost – sie fordert Aufmerksamkeit, ein offenes Ohr, die Bereitschaft zum Verweilen. Doch wer sich ihr anvertraut, wird reich belohnt: mit der Entdeckung eines Komponisten, dessen Musik nicht durch Lautstärke besticht, sondern durch Leuchtkraft und Tiefe. Ariane Matiakh setzt mit dieser Aufnahme ihr verdienstvolles Engagement für Charles Koechlin fort – und macht Lust auf mehr. Vielleicht wird er nicht der neue Star des Repertoires. Aber er wird – wie alle großen Außenseiter – irgendwann diejenigen erreichen, die bereit sind, sich verführen zu lassen.

Dirk Schauß, im April 2025

Charles Koechlin

Orchesterwerke und Lieder

Ariane Matiakh, musikalische Leitung

Capriccio, C5533

 

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