CD BRUCE LIU mit Tchaikovskys „Die Jahreszeiten“, op.37b Klavierfassung; Deutsche Grammophon
Bezaubernde Intimität
„Da es hier vergleichsweise wenige Noten gibt, muss man sich um jede einzelne kümmern. Jede Note muss wirklich sprechen.“ Bruce Liu
Von Tchaikovskys Zyklus Die Jahreszeiten gibt es eine Orchester- und eine Klavierfassung. Auf Tonträger finden sich zudem Versionen für Akkordeon, für Harfe, für zwei Gitarren und für Klaviertrio.
Die Mehrzahl der zahlreich erhältlichen Interpretationen konzentriert sich auf Klavier solo. In eine Zeit schwieriger äußerer Umstände kam der Auftrag des Verlegers für die Monatsschrift Nuvellist 1876 gerade zur rechten Zeit. Obwohl als Zyklus Die Jahreszeiten benannt, handelt es sich um zwölf namentlich betitelte Charakterstücke nach Dichterversen, für jeden Monat eines: Am Kamin, Karneval, Lied der Lerche, Schneeglöckchen, Weiße Nächte, Barcarole, Schnitterlied, Erntezeit, die Jagd, Herbstlied, Auf der Troika und Weihnachten.
Wir haben es einem Bericht von Peter Iljitsch Bruders Modest zufolge um flott entstandene Stücke von knapp zwei bis sechseinhalb Minuten Länge zu tun. Tchaikovskys Diener sollte den Meister an den jeweiligen Abgabetermin erinnern. So getan, setzte sich der Komponist hin und erfüllte die Aufgabe im Handumdrehen.
Freilich ist von dieser zeitlichen Komponente nichts zu merken. Diese lyrischen, in der Mehrzahl verinnerlichten Stücke tragen Saloncharakter und definieren sich nicht durch technischen Anspruch, sondern strahlen eine ruhige Intimität aus und atmen in autobiografischer Introspektion.
Der kanadische Pianist Bruce Liu sieht in der Befassung mit Tchaikovsyks Zyklus eine Art von musikalischer Atempause, auch um persönlichen Erinnerungen nachzugehen. Über die Musik meint der Pianist: „Die Palette reicht von tief melancholischen Melodien bis zu aufregenden Klangreisen, es wirkt fast wie ein Tagebuch. Die zwölf Stücke beschreiben die Landschaft Russlands und seine volkstümliche Kultur.“
Bruce Liu nähert sich diesen kostbaren Vignetten mit zart federndem Anschlag, wenig Pedal und einer soliden Einfachheit, die der Romantik der Stücke nichts nimmt, sie aber auch nicht überbetont. Da hält jemand Rede mit sich selbst, so wie es der Komponist beim Schreiben wahrscheinlich auch tat.
Dr. Ingobert Waltenberger