CD BRAHMS & GERNSHEIM; Vol. 2, MARIANI QUARTETT; Audax Rercords
Das Mariani Klavierquartett gedenkt musikalisch einer besonderen Künstlerfreundschaft in einer eigenen, auf drei Teile angelegten CD-Reihe. Johannes Brahms und Friedrich Gernsheim heißen sie. Der Zeitpunkt des Kennenlernens könnte sich im Jahr 1862 beim Kölner Musikfest zugetragen haben. Sicher ist, dass Friedrich Gernsheim als Chorleiter das Brahms-Requiem immer wieder programmierte und Brahms ihm für die „fantastische Arbeit“ dankte. In der Folge ging es weniger formell zu. Da tauchte in den Briefen bald die vertraute Anrede „Lieber Freund“ auf, bevor man sich in Wien zusammensetzte, um die gegenseitigen gerade aktuellen Kompositionsfortschritte zu besprechen.
Der Grund des Vergessenseins ist leider allzu offensichtlich. Der Cellist Peter-Philipp Staemmler weiß dazu: „Friedrich Gernsheim entstammte einer großen jüdischen Familie aus Worms. Die Nazis haben dafür gesorgt, dass Gernsheims Musik komplett aus dem Konzertleben verschwand. Und leider sollte sich dieser Zustand sehr lange halten. Es wird allerhöchste Zeit, dass sich das ändert.“ Immerhin dirigierten Gustav Mahler und Richard Strauß Gernsheims Musik, was sie ohne entsprechende Wertschätzung sicher nicht getan hätten.
Friedrich Gernsheim, frühreifer Geiger, Pianist und Komponist, studierte in Worms, Mainz, Frankfurt und Leipzig. Während seines fünfjährigen Aufenthalts an der Seine Metropole Paris machte er Bekanntschaft von Theodor Gouvy, Gioacchino Rossini, Édouard Lalo und Camille Saint-Saëns’. Nach einer Station in Saarbrücken wirkte er vor allem pädagogisch in Köln am dortigen Konservatorium. Er war zudem Leiter des städtischen Gesangvereins und Kapellmeister am Stadttheater. Einer seiner Schüler war kein Geringerer als Engelbert Humperdinck. 1874 ging Gernsheim als Direktor der „Gesellschaft zur Beförderung der Tonkunst“ nach Rotterdam, 1890 an das „Stern’sche Konservatorium“ in Berlin, wo er der Berliner Freimaurer-Loge Friedrich zur Gerechtigkeit beitrat.
Das Mariani Klavierquartett startete die Serie mit Gernsheims c-Moll-Quartett und dem Klavierquartett g-Moll, op. 25 von Brahms. Vgl. Sie dazu meine Besprechung für den Online Merker vom 24.4.2022. https://onlinemerker.com/cd-mariani-klavierquartett-startet-gesamteinspielung-aller-quartette-von-brahms-und-gernsheim-audax-records/
Auf der neuen CD wird Brahms‘ ausgedehntes Klavierquartett in A-Dur, Op. 26, Gernsheims Klavierquartett in F-Dur Op. 47 gegenübergestellt. Das deutsche Quartett, bestehend aus den Spitzensolisten Philipp Bohnen Violine, Barbara Buntrock Viola, Peter-Philipp Staemmler Cello und Gerhard Vielhaber Klavier, lässt hier nach einem verhalten-lyrischen Beginn im Allegro non troppo fast noch mehr ungebremste Leidenschaft und packenden dramatischen Zugriff spüren als in der „Debüt-CD“. Faszinierend ist die Mischung aus solistischer Emphase und einem nie nur klanglich motivierten, sondern strukturell-dialektisch induzierten Zusammenspiel. Der Musik nähern sie sich nicht allzu vorsichtig, sondern gehen trotz größter Klarheit ran wie Blücher. Der Brahms wächst freudvoll-visionär in den Himmel, und im Allegro-Finale wird es richtiggehend lavahitzig. Mich begeistert der elegant pointierte, nie hämmernde Anschlag des Pianisten, wobei die Klangbalance erstaunlich gut gewahrt bleibt, ohne Abstriche in der Ausformulierung extremer dynamischer Spitzen machen zu müssen.
Das Poco Adagio lässt an Schubert denken. Genauso feinfühlig, sehnsuchtsvoll geschmeidig – liedhaft wienerisch mit kleinen unruhig-unheimlichen Untertönen – phrasiert klingt das dann auch. Das Mariani Quartett geht das zitatenreiche Scherzo tänzerisch beschwingt an und findet auch im komplexeren Stimmengeflecht zu einem traumwandlerisch intensiven Miteinander, einem luftig erregten Plauderton. Verspielt wie vier purzelbaumschlagende Welpen steuert das Quartett auf das rasante Finale zu. Die transparente Grundhaltung und der große Bogen bleiben trotz aller symphonischen Pranke wunderbar gewahrt.
Das Klavierquartett in F-Dur von Gernsheim aus dem Jahr 1883 ist nicht minder kontrastreich geschrieben noch interpretiert. Klassizistischer und „schlanker“ als Brahms angelegt, überrascht der Brahms-Freund mit einem duftig pastoralen dreivierteltaktigen Allegro tranquillo, einem rhythmisch temperamentvollen Scherzo, einem melodisch landschaftsweit fließenden Andante cantabile und einem gigantisch genießerischen Variationenfinale. Hier gesellen sich Pizzicato Streicherklänge zum übermütigen Marschthema des Klaviers.
Das Mariani Quartett hat uns nach den Worten von Gerhard Vielhaber zwei gleichwertige, aber doch kontrastierende „Hauptgänge“ gekocht. Hier trifft das Sprichwort von den „vielen Köchen, die den Brei verderben“, sicherlich nicht zu. Hören Sie sich die 13 Variationen im letzten Satz des Quartetts in F-Dur an, für mich der Höhepunkt der schönen CD. Wie im Kaffeehaus werfen einander die vier Solisten vom Klavier befeuert die köstlichen „Wuchteln“ zu. Kammermusikalisches Glück pur!
Anmerkung: In Vol. 3 wird das strahlende Es-Dur Klavierquartett des Gernsheim mit Brahms‘ c-Moll Op. 60, dem tragischen „Werther Quartett“, kombiniert.
Tipp: So, 4.12.2022, 20 Uhr, Elbphilharmonie Hamburg Kleiner Saal – das Mariani Klavierquartett wird mit Friedrich Gernsheim Klavierquartett c-Moll op. 20, Wolfgang Amadeus Mozart Klavierquartett Es-Dur KV 493 und Johannes Brahms Klavierquartett Nr. 3 c-Moll op. 60 zu hören sein.
Dr. Ingobert Waltenberger