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CD-Box ROGER NORRINGTON – THE COMPLETE ERATO RECORDINGS

10.12.2022 | Allgemein, cd

CD-Box ROGER NORRINGTON – THE COMPLETE ERATO RECORDINGS

Der musikantisch beste und unterhaltsamste unter den Originalklangpionieren

„Es kümmert mich nicht, ob eine Aufführung als unhistorisch eingestuft wird. Hauptsache, sie macht Spaß.“ Roger Norrington

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Als Bub lernte Roger Geige und sang als Sopran im Chor, nachdem er als Sechsjähriger mit einem kanadischen Flugzeugträger zurück nach England kam, einem Schiff, das für die Landung der Alliierten vorgesehen war. Während seines Studiums in Cambridge war Roger Norrington ein begabter Tenor im Chor, der auch als Solist reüssierte. Was lag also näher für einen allseits begabten jungen Musiker, als einen eigenen Chor zu gründen? 1962 wurde der Schütz Choir aus der Taufe gehoben, nach einem deutschen Renaissancekomponisten benannt, der in England kaum bekannt war. Und genau das faszinierte diesen intellektuell neugierigen, humorvollen und verschmitzten Musiker, der als einer der Gründungsväter der Originalklangbewegung in der Folge von Nikolaus Harnoncourt vielleicht der vielseitigste und undogmatischste aller war. Britten, Tippett, Offenbach, Monteverdi und Verdi bildeten den Anfang, nicht ein enzyklopädisches Mammutprojekt wie alle Bach Kantaten bei Harnoncourt.

Schon als beginnender Plattensammler hatte ich die Neunte Beethoven unter Norrington, der – wie aufregend – noch flotter unterwegs war als Toscanini, den ich damals uneingeschränkt bewunderte. Dann war mir Norrington irgendwie entwischt, standen doch Sopranprimadonnen wie Leonie Rysanek im Zentrum meiner Aufmerksamkeit. Erst die Veröffentlichung der grandiosen SWR-Aufnahmen riefen mir Norrington wieder in Erinnerung und öffneten mir Aug und Ohr. Und wie! Die Haydn-, Mozart- und die Berlioz-Box rissen mich förmlich aus dem Sessel, so konzentriert, spannungsgeladen und unprätentiös musizierte Norrington mit dem auf modernen Instrumenten spielenden Orchester (eines der besten Deutschlands), wie stets höchst transparent, fluide und bei Haydn mit dem Schalk im Nacken.

1978 gründete Roger Norrington die London Classical Players. Einen Großteil der Musiker rekrutierte Norrington von der Kent Opera, unter ihnen den Konzertmeister John Holloway. Ein Großteil der Aufnahmen der vorliegenden Box ist mit genau diesem Orchester entstanden, das technisch zwar weniger versiert ist als das SWR Rundfunkorchester, aber den Intentionen des Maestro genauso willig folgt wie der Concentus Musicus Wien dies mit den vielfältigen Experimenten und Erkundungen des genialen Harnoncourt tat.

Erst 1986 schloss die EMI „Reflex“ einen Plattenvertrag mit Orchester und Dirigenten, und zwar vorerst mit dem einzigen Auftrag, alle neun Symphonien Beethovens aufzunehmen. Norrington war zu dem Zeitpunkt 52 Jahre jung und setzte dem Titanen kein weiteres marmornes Denkmal in distanter Schönheit und klassischer Balance. Vielmehr beschwörte Norrington den Geist Beethovens im Sinne des Epochenumbruchs, den Phäaken und das geerdete Mannbild. Wir folgen den emotionalen Extremen und natürlich auch – ohne jeglichen Bierernst – dem hymnischen Heroen in einer bis heute unvergleichlich dichten und dennoch duftigen Lesart, lange bevor sich ein Currentzis als esoterischer Magier der Klassik selbst inszenierte und oft das Publikum nichts als einem dynamischen Wechselbad aussetzte.

Wie schon vor ihm von Toscanini, Klemperer oder Karajan 1961/62 so gehandhabt, ist Norringtons Beethoven objektiver und sachlicher als die auf andere Weise faszinierenden und natürlich pathetischeren Klangvorstellungen von Wilhelm Furtwängler (der den kleinen Roger bei einem Konzert mit den Berliner Philharmonikern 1946 in London so aufwühlte, dass er ebenfalls Dirigent werden wollte).

Norrington hielt sich an die nachträglichen Metronomangaben Beethovens von 1817, freilich in Konkordanz mit dem Tempo, das „angenehm für das Orchester und dem Konzertsaal angemessen“ sein sollte. Dabei fehlt Norrington völlig das Apodiktische und seherisch Fanatische anderer Kollegen, die wie er versuchten, die Artikulation, die Bogenführung, die Phrasierung, die Notenlängen an das alte Instrumentarium anzupassen.

Norrington tänzerischer Schwung zieht sich durch seinen Haydn und Mozart, seinen Schubert und Schumann wie ein roter Faden, ebenso seine Überraschungslaune ohne Bilderstürmerabsicht. Und klar ist Roger Norrington ein Romantiker auf die smarte britische Art ohne existenzielle Erdenschwere, auch wenn er diese Betitelung vehement ablehnen würde. Aber hören Sie sich „seinen Mendelssohn“, die Brahms-Symphonien, dessen Requiem, die beiden Symphonien von Weber bzw. die Wagner-Ouvertüren und Vorspiele Holländer, Meistersinger, Lohengrin, Rienzi, Tristan, Parsifal an (wunderbar klar mit flüssigen Tempi wie dies einst Clemens Krauss oder zeitgleich mit Norrington Pierre Boulez vorexerzierten). Bei dieser Spielart der Romantik geht es um eine Schwärmerei des Augenblicks, touchy und flüchtig, schwebend und mit gutgelauntem Vorzeichen, auch wenn die Holde unerreichbar sein sollte. Das Tragische verschwindet genau so rasch wie Glück und Liebe, also wieso sich noch draufsetzen? „Entmystifiziert“ klingt das, wie bestimmte „Dienste“ sagen, wenn was aus dem Nebel, dem Dickicht des Unklaren geholt ist.

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Vom Operndirigenten Norrington sind auf der Box an Gesamtaufnahmen Mozarts „Die Zauberflöte“ und „Don Giovanni“ zu hören. Sind die Opern dramaturgisch flüssig und kindertauglich zugleich dirigiert, wie dies nur möglich ist (René Jacobs hört sich daneben manieriert glatt an), so hat Norrington bei den Sängerbesetzungen nicht immer ein goldenes Händchen. Beverly Hoch ist wohl kaum mehr als eine Karikatur der Königin der Nacht und auch Dion Giovanni ist mit Andreas Schmidt maximal unerotisch, die Donna Anna wiederum mit Amanda Halgrimson viel zu leicht besetzt. Dafür überzeugen Dawn Upshaw als Pamina, John Mark Ainsley als Tamino bzw. Ottavio, Nancy Argenta als Zerline oder Gerald Finley als Masetto.

Meine Lieblings-CD der Box ist Mozarts Klavierkonzert Nr. 16 in D-Dur KV 451, und dem Konzert für Klavier und Violinen in D-Dur KV 315f gewidmet. Es spielt die Camerata Salzburg, deren Chefdirigenten-Position der mittlerweile zum Sir geschlagene Roger Norrington 1998 bis 2006 innehatte. Die Soloparts haben damals Sebastian Knauer (Klavier) und Daniel Hope (Violine) übernommen. Das apollinische Album gilt bei aller Problematik solcher Wertungen zu Recht als eine der besten Mozart-Platten aller Zeiten.

Wer den Unterschied zwischen Norrington und Harnoncourt auf den Punkt genau verstehen will, der greife zu den CDs 44 und 45. Ein solch funkensprühende Rossini-Gala zum 200. Geburtstag des Komponisten 1992 in der Avery Fisher Hall in New York wäre Harnoncourt zu banal gewesen. Wir aber freuen uns an dem temporeichen vokalen Feuerwerk mit Arien und Ensembles aus Guillaume Tell, Il barbiere di Siviglia, L’Italiana in Algeri, Il Viaggio a Reims, Le Siège de Corinthe, La Gazza Ladra, La Donna del Lago, La Cenerentola, Zelmira und Bianca e Falliero, vor allem wenn uns die wuschige Musik durch solch spektakuläre Stimmen wie Deborah Voigt, Frederica von Stade, Marilyn Horne, Samuel Ramey, Chris Merritt, oder Thomas Hampson versüßt wird.

Die Box ist eine tolle Gelegenheit, Norringtons nach wie vor zukunftsweisenden Musizierstil, seine künstlerische Vielseitigkeit und undogmatischen Approach kennenzulernen bzw. neu zu bewerten und vielleicht das eine oder andere Vorurteil abzulegen. Die Ohrenputzer gibt es zu einem Preis von ca. 2 Euro pro CD. Ganz große Empfehlung!

Dr. Ingobert Waltenberger

Inhalt der Box

  • Wolfgang Amadeus Mozart: Symphonien Nr. 38-41; Klavierkonzerte Nr. 16, 20, 23-25; Violinsonate KV 379; Konzert D-Dur KV 315f für Klavier, Violine, Orchester; Requiem KV 626 (komplettiert von Duncan Druce); Maurerische Trauermusik KV 477; Ave verum KV 618; Don Giovanni KV 527 (Gesamtaufnahme); Die Zauberflöte KV 620 (Gesamtaufnahme)
  • Ludwig van Beethoven: Symphonien Nr. 1-9; Klavierkonzerte Nr. 1-5; Die Geschöpfe des Prometheus-Ouvertüre op. 43; Coriolan-Ouvertüre op. 62; Egmont-Ouvertüre op. 84; Chorfantasie op. 80
  • Joseph Haydn: Symphonien Nr. 99-104 „Londoner“; L’Anima del filosofo-Ouvertüre H1a: 3
  • Johannes Brahms: Symphonien Nr. 1-4; Haydn-Variationen op. 56a; Tragische Ouvertüre op. 81; Begräbnisgesang op. 13; Ein Deutsches Requiem op. 45
  • Franz Schubert: Symphonien Nr. 4-6, 8, 9
  • Felix Mendelssohn-Bartholdy: Symphonien Nr. 3 & 4
  • Robert Schumann: Symphonien Nr. 3 & 4
  • Anton Bruckner: Symphonie Nr. 3 WAB 103 (Version 1873)
  • Georg Friedrich Händel: Wassermusik-Suiten Nr. 1 & 2 HWV 348 & 349; Feuerwerksmusik HWV 351; Sinfonias & Arien aus Serse HWV 40, Giulio Cesare in Egitto HWV 17, Tamerlano HWV 18, Ariodante HWV 33, Rodelinda HWV 19, Rinaldo HWV 7
  • Henry Purcell: The Fairy Queen Z. 629 (Gesamtaufnahme)
  • Carl Maria von Weber: Symphonien Nr. 1 & 2; Konzertstück f-moll op. 79 für Klavier & Orchester
  • Hector Berlioz: Symphonie fantastique op. 14
  • Gioacchino Rossini: La Scala di seta-Ouvertüre; Il Signor Bruschino-Ouvertüre; L’Italiana in Algeri-Ouvertüre; Il Barbiere di Siviglia-Ouvertüre; La Gazza Ladra-Ouvertüre; Semiramide-Ouvertüre; Guillaume Tell-Ouvertüre#
  • Richard Wagner: Rienzi-Ouvertüre; Liebestod & Vorspiel aus Tristan und Isolde; Die Meistersinger von Nürnberg-Vorspiel; Siegfried-Idyll; Parsifal-Vorspiel; Lohengrin-Vorspiel zum 3. Akt
  • Bedrich Smetana: Mein Vaterland
  • Frantisek Skroup: Nationalhymne der tschechischen Republik
  • „Early Romantic Overtures“ – Carl Maria von Weber: Oberon-Ouvertüre; Felix Mendelssohn: Die Hebriden-Ouvertüre op. 26; Hector Berlioz: Les Francs Juges-Ouvertüre op. 3; Robert Schumann: Genoveva-Ouvertüre op. 81; Franz Schubert: Die Zauberharfe-Ouvertüre D. 644; Richard Wagner: Der fliegende Holländer, Ouvertüre
  • „The Rossini Bicentennial Birthday Gala“Gioacchino Rossini: Orchesterstücke, Arien & Szenen aus La Gazza Ladra, La Donna del Lago, Stabat Mater, La Cenerentola, Zelmira, Bianca and Falliero, Guillaume Tell, Petite Messe Solennelle, L’Italiana in Algeri, Le Siège de Corinthe, Il Viaggio a Reims

 

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