Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD Box BBC LEGENDS VOL. 4 – Great Recordings from the Archive; ICA Classics

Wunderkasten der Tonträgergeschichte, Live-Mitschnitte aus den Archiven der British Broadcasting Corporation

21.12.2023 | Allgemein, cd

CD Box BBC LEGENDS VOL. 4 – Great Recordings from the Archive; ICA Classics

Wunderkasten der Tonträgergeschichte, Live-Mitschnitte aus den Archiven der British Broadcasting Corporation

gxc

Zum vierten Mal präsentiert das vom Künstleragenten Stephen Wright gegründete Label ICA Classics eine 20 CD-Box mit Highlights aus der BBC Legends Serie. Volume eins wurde 2013, der zweite inzwischen vergriffene Teil 2017 veröffentlicht, während die dritte Box Ende 2022 erschien. Die Initiative auf Basis eines Langzeitvertrages von ICA Classics mit BBC Worldwide ist deshalb so unschätzbar wertvoll, weil Einzelaufnahmen aus dem BBC Legends-Katalog (60-er bis 80-er Jahre) seit 2010 nicht mehr erhältlich waren. Außerdem werden die früher zum Vollpreis verkauften Einzelalben in der Box nun zu einem wesentlich günstigeren Preis angeboten.

Die Box bietet einige der schillerndsten Juwelen des Archivs, enthält Live-Repertoireraritäten und lässt uns musikalische Kombinationen (z.B. Pierre Boulez und Sir Clifford Curzon in Beethovens fünftem Klavierkonzert) erleben, die die kommerzielle Musikindustrie nicht aufgriff.

Aber noch bedeutsamer scheint, dass Künstlerinnen und Künstler der Vergangenheit in den Fokus gerückt werden, an deren hohen Stellenwert und musikalische Potenz im lauten Getriebe und kurzlebigen PR-Getöse des immer Neuen nicht genug aufmerksam gemacht werden kann. All das in aufregendem vor-digitalem Klang.

Neben Alben für die einsame Insel wie Sviatoslav Richters Sicht auf die Klaviersonaten von Schubert D 575, 625, 664, Moment musical D 780 (Royal Festival Hall 31.3.1979) oder die Aufnahmen mit Arturo Benedetti Michelangeli (Edvard Grieg Klavierkonzert in a-Moll, Op. 16, 17.6.1965 Royal Festival Hall, Debussy Préludes I, 13.4.1982) mögen drei Beispiele ein wenig die Besonderheit der Box beleuchten:

An erster Stelle möchte ich an die Tchaikovsky- und Respighi-CD des heute kaum noch bekannten rumänischen Dirigenten und Komponisten Constantin Silvestri erinnern, der mit dem Bournemouth Symphony Orchestra am 22.2.1963 in Winter Gardens Bournemouth (Tchaikovsky Manfred Symphony in b-Moll, Op. 58) und am 20.9.1967 in der Colston Hall Bristol (Respighi: Pini di Roma P. 141) konzertierte. Testament hat die Aufnahme der „Manfred-Symphonie“ mit Silvestri und dem Orchestre National de la Radiodiffusion Française vom November 1957 aus der Salle Wagram veröffentlicht. Im Vergleich dazu ist nicht nur die Tonqualität der neueren Stereo BBC-Edition vorzuziehen, sondern Silvestri ist im ersten und vierten Satz noch schnittiger (jeweils um 2 Minuten schneller) und kantiger unterwegs als in Paris. Die Programmsymphonie nach der gleichnamigen dramatischen Dichtung von Lord Byron um die inzestuöse Beziehung des Helden zu seiner Halbschwester Astarte hat Tchaikovsky zu einem persönlich bekenntnishaften symphonischen Furioso inspiriert, das nur noch von der „Pathétique“ übertroffen wird. Silvestri hüllt im Vivace con spirito (zweiter Satz) die Begegnung Manfreds mit der Fee am Wasserfall im Berner Oberland in ätherisches Glitzern und Funkeln. Im „faustischen“ Allegro con fuoco (vierter Satz) verbündet sich Manfred mit dunklen Geistern, um seine Geliebte herauf zu beschwören. Das Bacchanal lässt Silvestri derart höllisch schwefelig knistern, dass man auch an Bulgakovs Hexensabbath aus „Der Meister und Margarita“ denken könnte. Wie die „Manfred Symphonie“ ist Silvestris extrem effektvolle virtuose Lesart der Pini di Roma Resphigis eine Herausforderung für jede HiFi-Anlage. Hat das Gewirbel der spielenden Kinder um die Villa Borghese je ausgelassener geklungen bzw. sind die Geister von Konsul und Soldateska auf der Via Appia je triumphaler aufmarschiert als hier? Wer sinfonische Ekstase bei strenger struktureller Klammer erleben will, dem sei dieses Album wärmstens ans Herz gelegt.

Ein besonderes Highlight der Box stellen die Aufnahmen von Lili Boulangers „Psalm 24“ für Tenor, Harfe, Pauken, Chor und Orgel, ihr „Pie Jesu“ für Kontraalt, Streichquartett, Harfe und Orgel und insbesondere der 1910 entstandene „Psalm 130“ ‚Du fond de l’abîme‘ für Kontraalt, Tenor, Chor, Orchester und Orgel dar. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Schwester der im Alter von nur 24 Jahren 1918 verstorbenen Lili, Nadia Boulanger das Konzert in den Fairfield Halls, Croydon, mit dem BBC Symphony Orchestra & Chorus am 30.10.1968 höchstpersönlich in einer atemberaubenden Intensität leitete. Nadia war es auch, die die letzten Noten des erschütternden „Pie Jesu“ notierte, weil ihre kranke Schwester dazu zu schwach geworden war. Die drei geistlichen Werke gehören zum mystisch-gewaltigsten und emblematischsten des französisch musikalischen Impressionismus. Die Musik scheint in grenzenlosem Schmerz – „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“ – und in Konvergenz zu so etwas wie Erlösung prophetisch die gesamten Schrecken des 20. Jahrhunderts in sich zu tragen. Das künstlerische Gewicht der Aufnahmen, die Präzision sowie das glühende Engagement aller Beteiligten, sind einzigartig. Die Tonqualität stellt den Technikern der BBC das beste Zeugnis aus. Auf dem Programm stand noch das in seinem chorischen Schweben tröstliche Requiem Op. 48 von Gabriel Fauré. Es sangen Janet Price (Sopran), Bernadette Greevy (Kontraalt), Ian Partridge (Tenor) und John Carol Case (Bariton), allesamt erstklassig. Besonders die flehentlichen Altsoli von Greevy (Boulanger) hinterlassen einen tiefen Eindruck.

Als drittes Album unter den vielen unvergleichlichen dieser Box (Klaus Tennstedt – Gustav Mahler: Symphonie Nr. 7; Jascha Horenstein – Anton Bruckner: Symphonie Nr. 5; Dietrich Fischer-Dieskau & Karl Engel – Gustav Mahler: Lieder eines fahrenden Gesellen; Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit; Rückert-Lieder) möchte ich zwei Mitschnitte Rudolf Kempes hervorheben: Am 12.10.1975 dirigierte er in den Fairfield Halls, Croydon, Leos Janaceks „Sinfonietta“, am 18.2.1976 Michael Tippetts „Concerto für doppeltes Streichorchester“ (1939) und das Violinkonzert von Alban Berg (Solistin Edith Peinemann) in der Royal Festival Hall, London. Kempe edelt Tippetts polyphones, rhythmisch irgendwo im Kosmos Hindemith- Klassizismus (Stravinsky) -englische Folklore angesiedeltes Konzert mit Strauss’scher Opulenz. Wenngleich es akkuratere Wiedergaben von Bergs Violinkonzert gibt, so überzeugen der sangliche Ton und die technische Überlegenheit der Solistin. Die emotionale Dichte, das aus der Herzkammer der Musik erfasste Pulsieren, die Durchhörbarkeit der kompositorischen Architektur, die charismatische Eigentönung des Dirigenten, all das lässt dieses Konzert so einmalig erscheinen und den Hörer aufgewühlt innehalten.

 

Inhalt der Box:

  • Klaus Tennstedt – Gustav Mahler: Symphonie Nr. 7; Wolfgang Amadeus Mozart: Symphonie Nr. 41 „Jupiter“ (LPO)
  • Constantin Silvestri – P. I.  Tchaikovsky: Manfred-Symphonie op. 58; Ottorino Respighi: Pini di Roma
  • Svjatoslav Richter – Franz Schubert: Klaviersonaten D. 557, 625, 664; Moment musical C-Dur D. 780
  • Sir John Barbirolli – Gustav Mahler: Symphonie Nr. 4 (Heather Harper); Hector Berlioz: Le Corsaire-Ouvertüre, Op. 21
  • Clifford Curzon/Pierre Boulez – Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 5; Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert Nr. 26
  • Nadia Boulanger – Lili Boulanger: Psalmen 24, 130; Pie Jesu; Gabriel Faure: Requiem op. 48
  • Jascha Horenstein – Anton Bruckner: Symphonie Nr. 5
  • Dietrich Fischer-Dieskau/Karl Engel – Gustav Mahler: Lieder eines fahrenden Gesellen; Lieder und Gesänge aus der Jugendzeit; Rückert-Lieder
  • Arturo Benedetti Michelangeli – Edvard Grieg: Klavierkonzert in a-Moll, op. 16; Claude Debussy: Preludes Heft 1 Nr. 1-12
  • Sir Adrian Boult – Franz Schubert: Symphonie Nr. 8 „Unvollendete“; Georges Bizet: Petite Suite op. 22; Maurice Ravel: Daphnis et Chloe-Suite Nr. 2; Jean Sibelius: Symphonie Nr. 7 in C-Dur, Op. 105, Philharmonia Orchestra und Royal Philhamonic Orchestra (Sibelius)
  • Carlo Maria Giulini – Benjamin Britten: War Requiem op. 66
  • John Ogdon – Franz Liszt: Klavierkonzerte Nr. 1 (Constantin Silvestri mit dem Bournemouth Symphony Orchestra) und Nr. 2 (Sir Colin Davis und das BBC Symphony Orchestra); Mephisto-Walzer Nr. 1; Grande Fantaisie de bravoure sur La Clochette; Étude d’éxécution transcendante Nr. 11 Harmonies du soir, Andantino
  • Evgeny Svetlanov – Nikolai Rimsky-Korsakov: Procession of the Nobles aus der Mlada-Suite; Scheherazade op. 35 (LSO); Alexander Scriabin: Poeme de l’extase op. 54 (UdSSR Symphony Orchestra)
  • George Szell – Ludwig van Beethoven: Symphonien Nr. 8 und Nr. 9 (Harper, Baker, Dowd, Crass), New Philharmonia Orchestra & Chorus
  • Dennis Brain – Wolfgang Amadeus Mozart: Hornkonzert Nr. 3; Divertimento KV 270 (Allegro molto & Presto); Benjamin Britten: Serenade op. 31 für Tenor, Horn, Streicher; Robert Schumann: Adagio & Allegro op. 70 für Horn & Klavier; Darius Milhaud: Chasse a Valabre aus La Cheminee du Roi Rene op. 205; Peter Racine Fricker: Bläserquintett op. 5
  • Rudolf Kempe – Michael Tippett: Konzert für doppeltes Streichorchester; Alban Berg: Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“ (Edith Peinemann) Leos Janacek: Sinfonietta
  • Paul Tortelier – Edward Elgar: Cellokonzert op. 85 (Sir Adrian Boult); Johannes Brahms: Konzert op. 102 für Violine, Cello, Orchester (Sir John Pritchard); Claude Debussy: Cellosonate D-Dur (Ernest Lush Klavier)
  • Rudolf Serkin – Ludwig van Beethoven: Klaviersonaten Nr. 29, Op. 106 „Hammerklavier“ und Nr. 31, Op. 110

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken