CD-Box ANITA CERQUETTI „THE VERDI SOPRANO“; Live Recordings 1954-1960; Panclassics
Zum 10 Todestag der italienischen Ikone des Verdi -Gesangs
Die Befassung mit historischen (Oper)Aufnahmen erlaubt es, nicht nur Wissen über das sängerische Können und die teils zu Recht legendäre, bisweilen allzu verklärte Vergangenheit zu sammeln, sondern das Jetzt und Hier der Opernwelt besser einordnen zu können. Da braucht es keine Sentimentalität und keine Verklärung, sondern nur ein offenes Ohr.
Dieses genaue Hinhören ist besonders dann gefragt, wenn wir einer Ikone wie derjenigen der in Montecosaro geborenen Anita Cerquetti auf die Spur kommen wollen. Eine Legende wurde sie zuerst einmal wegen ihres unvergleichlich stilvollen wie generösen Gesangs, aber auch weil die junge Sopranistin als 19-jährige ihr Konzertdebüt feierte und als 21-Jährige mit keiner kleineren Rolle als derjenigen der Aida ihr Operndebüt in Spoleta bestritt. Die kurze, aber bedeutende Karriere führte sie an die großen Opernhäuser Italiens genauso wie nach Chicago, Philadelphia oder Mexico City. 1959 pausierte sie, 1960 kehrte Cerquetti der Bühne den Rücken.
Die am Liceo Musicale Morlacchi in Perugia ausgebildete Sängerin verfügte von Anfang an über einen echten dramatischen italienischen Sopran in der Nachfolge etwa einer Gina Cigna. Über Timbre und Stimmqualität kann man generell diskutieren, bei Cerquetti sind sich die allermeisten Opernfreunde allerdings einig, dass es sich um eine der klangschönsten, natürlichsten Sopranstimmen des italienischen Fachs nicht nur der goldenen Fünfziger Jahre gehandelt hat.
Dabei können Melomanen nicht aus einem reichen Fundus an Studioproduktionen schöpfen, sondern sind auf wenige (qualitativ mehr oder weniger ausreichend gute) Aufnahmen, einige davon Rundfunkmitschnitte, angewiesen. Die Studios waren in dieser Zeit über die damaligen Marktführer EMI und DECCA hauptsächlich von der Callas und der Tebaldi in Beschlag genommen. Von der Cerquetti gibt es daher leider nur eine Studiogesamtproduktion, nämlich „La Gioconda“ mit Mario Del Monaco, Cesare Siepi, Giulietta Simionato, Ettore Bastianini, dem Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino, unter Gianandrea Gavazzeni.
Auf der nun veröffentlichten Box wird der Verdi-Sopranistin mit den Opern Aida (Ausschnitte) sowie Gesamtaufnahmen von I Vespri Siciliani, Don Carlo, Un ballo in maschera, Ernani, La forza del destino sowie Nabucco ein repräsentativer Kranz geflochten.
Den exquisit timbrierten Sopran der Cerquetti zu beschreiben fällt nicht leicht, liegt doch das wahre Faszinosum einer Opernstimme jenseits der Möglichkeiten von Sprache. Nach dem Hören/Wiederhören der Opern kann ich sagen, dass sie mich jetzt noch mehr begeistert als früher. Cerquettis ruhig geführter, geschmeidiger Spinto scheint von innen her zu leuchten und hebt sich damit von vielen ab, die diese Rollen heute singen. Das gilt auch für die feminine Weichheit des Tons, ihr Legato, die Phrasierung, die Ausgeglichenheit des Gesangs über alle Stimmregister hinweg, das auf-Linie und sul fiato-Singen sowie die immer noble gestalterische Artikulation.
In all den mit der Box präsentierten Verdi-Rollen schwingt die ehrliche wie unmittelbare Emotion einer jungen Frau, deren Erleben und arios gefassten seelischen Dispositionen mit. Die tiefe Humanität und Spiritualität dieser Sopranistin überträgt sich mit jedem Ton auf den Hörer, was ihre Rollenporträts so eindringlich wie berührend macht. Besonders die breit geführte Mittellage, die berückenden Piani und die trotz der gewissen dramatischen Schwere der Stimme vorhandene Agilität in Rollen wie Abigaille oder der Duchessa Elena machen aus Anita Cerquetti eine einzigartige und faszinierende Erscheinung in der Welt der Oper. Dazu kommt ein sofort wiedererkennbares Timbre, in dem Milch und Honig fließen.
Mein persönliches Highlight der Box sist die Aufnahme der Oper „I Vespri Siciliani“ aus dem Jahr 1955 mit dem fantastischen Orchestra sinfonica und dem Chor der Rai Torino unter ihrem damaligen Chefdirigenten Mario Rossi. Ein auch klanglich durchaus appetitanregender Mitschnitt, der noch dazu mit großartigen Partnern, wie dem Tenor Mario Ortica als höhensicherem wie stilistisch fantastischem Arrigo (ich kenne keinen besseren), Carlo Tagliabue als aristokratischem Guido de Monforte und vor allem Boris Christoff als souveränem Giovanni da Procida glänzt.
Vom Dirigat her wird diese Referenzaufnahme nur noch von „Ernani“ unter der temperamentvollen Stabführung des Dimitri Mitropoulos aus Florenz von 14.6.1957 übertroffen. Auch hier ist es zudem ein ungetrübtes Vergnügen, Cerquettis Partnern (Mario del Monaco als Ernani, Ettore Bastianini als Don Carlo und Boris Christoff als Don Silva) zu lauschen.
In den lyrischeren Rollen wie der Elisabetta di Valois in „Don Carlo“ mit dem Orchester und Chor des Maggio Musicale Fiorentino unter Antonino Votto vom 16.6.1956 oder der „Aida“ aus der Arena Flegrea in Neapel vom 24.7.1954 werden alle diejenigen auf ihre Kosten kommen, die gepflegteste Gesangskultur kombiniert mit einem reichen Farbenspiel und üppiger Tongebung schätzen.
Tontechnisch allzu medioker und daher nur eingeschränkt zu empfehlen sind „Un ballo in maschera“ (mit Ettore Bastianini, Gianni Poggi, Ebe Stignani) aus Florenz vom 6.1.1957 und „La forza del destino“ vom 28.9.1957 (römische RAI mit Giulietta Simionato, Aldo, Protti, Renato Capecchi und wieder Boris Christoff).
Aufnahmetechnisch gut hingegen ist der „Nabucco“. Die Oper wurde in Hilversum Ende Oktober 1960 mitgeschnitten und bezeugt damit das Ende der Karriere von „La Cerquetti“. Mit dem Radio Filharmonisch Orkest und Koor unter Fulvio Vernizzi ist noch einmal das hochdramatische Kaliber dieser solitären Stimme zu bewundern, wenngleich einige „Kratzer“ in der extremen Höhe nicht zu überhören sind.
Fazit: Die Box bietet eine gute Gelegenheit, Anita Cerquetti kennenzulernen. Früher mussten Sammler die Lives mühsam zusammentragen, jetzt werden einige der besten Verdi-Aufnahmen in einem einzigen „Aufwaschen“ angeboten.
Nachtrag: 1996 wirkte Anita Cerquetti in dem Film „Poussières d’amour“ von Werner Schroeter in einer bewegenden Szene mit Trudeliese Schmidt mit. „Der Titel des Films basiert auf der sehr persönlichen Überzeugung, dass alles, was wir mit der Stimme ausdrücken, das Produkt unserer Suche nach einer größeren Annäherung mit dem Anderen, nach Liebe und sämtlichen denkbaren Liebesfähigkeiten ist.“ (Werner Schroeter)
Appetizer: https://www.youtube.com/watch?v=WL6njTfHAK0 Elenas Auftrittsarie aus I Vespri Siciliani.
Dr. Ingobert Waltenberger