CD/Blu-ray Disc Edition: SEIJI OZAWA und die BERLINER PHILHARMONIKER; Berliner Philharmoniker Recordings
Bisher unveröffentlichte Ton/Filmdokumente vorwiegend aus den 80-er Jahren als Hommage an 50 Jahre künstlerische Zusammenarbeit 1966 bis 2016
„Durch seine Nahbarkeit und sein oft unkonventionelles Auftreten verkörperte er einen erfrischend neuen Dirigententypus. Kurz: Seiji Ozawa war für uns eine in jeder Hinsicht inspirierende Künstlerpersönlichkeit. Mit Freude und Dankbarkeit haben wir ihn 2016 zu unserem Ehrenmitglied ernannt.“ Eva-Maria Tomasi, Stefan Dohr Orchestervorstände der Berliner Philharmoniker
Quirlig war er, ein seelenkundiger Traumtänzer auf dem Pult, strotzend vor innerer und motorischer Energie, präzisen Interpretations-Vorstellungen und Sympathie für alle, die mit ihm arbeiteten und weit darüber hinaus. Ich habe Ozawa dankbarerweise oft live erlebt, sei es an der Wiener Staatsoper (unvergesslich die „Pique Dame“-Serie mit Freni, Atlantov, Leiferkus; Chernov und Mödl) im Mai 1992 oder im Konzertsaal. Einmal hatten wir dasselbe Flugzeug von Wien nach Paris und er wurde von einem Fan angesprochen. Die völlige Natürlichkeit, Dezenz und bescheidene Freude als Reaktion ein seinem Gesicht werde ich nie vergessen.
Seiji Ozawa war als Dirigent und nachschöpfender Musiker ein Schüler von Herbert von Karajan und von Leonard Bernstein. Man stelle sich vor. Karajan und Ozawa trafen sich erstmals 1960. Es ereignete sich anlässlich des Internationalen Dirigentenpraktikums an der damals so genannten Hochschule für Künste in Berlin. Ulrich Eckert erinnert sich auf den legendären Auftritt Ozawas vor Karajan: „Die nahezu vollkommene Transformation musikalischer Energie in körperliche Aktion, die Harmonie und Spannung und Entspannung, die Geburt der Bewegung aus der Atmung.“ Ab da an war Ozawa ein Schützling Karajans. Was auch nur wenige wissen mögen: Eigentlich wollte Ozawa Pianist werden, aber ein Rugbyunfall mit zwei gebrochenen Fingern verhinderte eine einschlägige Karriere.
In Berlin machte Ozawa auch die Bekanntschaft von Leonard Bernstein, der den jungen Dirigenten ansprach und für eine Tournee-Assistenz mit dem New York Philharmonic gewinnen wollte. Er tat es, aber nicht ohne Sanctus des Chefs der Berliner Philharmoniker.
Ungefähr zur Zeit, als Ozawa sein Amt als Chefdirigent beim Toronto Symphony Orchestra antrat, debütierte er auch bei den Berliner Philharmonikern. Das war am 21.9.1966, wo er unter anderen auch Hindemiths Symphonie „Mathis der Maler“ dirigierte. Es folgen weitere gemeinsame Projekte, selbstverständlich war Ozawa auch 1982 bei den Festen zum 100. Geburtstag der Berliner Philharmoniker mit von der Partie und er leitete 2008 das Gedenkkonzert zum 100. Geburtstag Karajans. Eine Krebserkrankung zwang ihn schon 2009, sich aus dem Konzertleben zurückzuziehen. 2016 kehrte er noch einmal zurück ans Pult der Berliner Philharmoniker, die Filmmitschnitte von Ludwig van Beethovens „Egmont“, Op. 84: Ouvertüre und dessen „Fantasie für Klavier, Chor und Orchester“ in c-Moll, Op. 80 „Chorfantasie“ mit Peter Serkin am Klavier sind als kostbare Dokumente auf der Blu-ray veröffentlicht.
Die besten Resultate erzielte Ozawa abgesehen von einigen spektakulären Ausnahmen (Pique, Dame, Eugen Onegin, Jenufa, Wozzeck, Saint François d’Assise) nicht in der Oper, sondern auf dem Konzertpodium. Besonders die Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern erwies sich, wie anhand der nun publizierten Live-Mitschnitte nachvollzogen werden kann, als eine besonders glückliche. Die technische Perfektion des Klangkörpers mit den detailreich und in partnerschaftlichem Austausch erprobten Vorstellungen des japanischen Maestros harmonierten offenbar derart, dass dies auch nicht zu unterschätzende klangliche Auswirkungen auf das stets transparent und differenziert agierende Orchester zeitigte. Nehmen Sie nur die klanglich fantastisch aufbereiteten Aufnahmen von Bartóks „Konzert für Viola und Orchester“ (Solist Wolfram Christ) vom 30.5.1988, die „Siebte“ von Anton Bruckner vom 22.6.1988 oder die unglaublich spannungsgeladene „Erste“ von Gustav Mahler vom 3.2.1980 und Sie werden staunen, wie flauschig trotz aller rhythmischer Markanz die Streicher klingen und wie wenig stählern, sondern golden glühend das Blech bei Bruckner interagiert. Viel ist einem musikalischen Fluss untergeordnet, der die Entwicklungen und Übergänge eins aus den anderen spontan fließen lässt. Von Karajan ist besonders bei Beethoven der Wille zu Balance und klassischer Form zu spüren, von Bernstein das Ungestüme und wohl auch hitzig Emotionale, das aber stets in japanischer Noblesse und niemals in Exzessive ausartet. Ozawa schafft es sogar bei Hindemiths später Symphonia Serena (1946) vom 28.6.1987, impressionistische Stimmungsbilder zu malen. Das oft als abgeklärt beschriebene Werk wirkt unter den plastisch akzentuierenden Händen von Ozawa fein ziseliert, verspielt, voller packender Dramatik auf der einen Seite und gelassener Zuversicht auf der anderen.
Selbstredend bildet das Konzert für Klavier und Orchester in G-Dur von Maurice Ravel mit Martha Argerich als Solistin (22.6.1982) einen strahlenden Höhepunkt der Edition. Mir gefällt besonders die „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz, die schlank wie Haydn und farbenstark-märchenhaft nach Gemälden von Surrealisten klingt. Das alles verbunden mit einer Leichtigkeit, einer Fluidität, einem Drive, die sich von anderen Interpretationen wohltuend abheben.
Die Blu-ray wartet außer dem bereits erwähnten Abschiedskonzert mit einer gediegenen Gesamtaufnahme von Felix Mendelssohn-Bartholdys Oratorium „Elias“ mit dem phänomenalen Rundfunkchor Berlin und den Solisten Annette Dasch (Sopran), Gal James (Sopran), Nathalie Stutzmann (Alt), Nadine Weissmann (Alt), Paul O.Neill (Tenor), Anthony Dean Griffey (Tenor), Matthias Goerne (Bariton) und Ferrando Javier Radó (Bass) sowie einer lichtdurchfluteten „Ersten“ Bruckner (Linzer Fassung) vom 31.1.2009 auf.
Fakten zur Edition
Die Radioaufnahmen dokumentieren vor allem die 1980er-Jahre: eine Zeit, in der Seiji Ozawa in jeder Saison mehrmals zu Gast bei den Berliner Philharmonikern war. Die Werkauswahl der Edition zeigt sowohl Ozawas stilistische Vielfalt wie auch seine persönlichen Vorlieben – deutsch-österreichische Klassik und Spätromantik, französisches Repertoire, die klassische Moderne. Neben den Aufnahmen auf sechs CDs sowie einer Blu-ray umfasst die Hardcover-Edition ein ausführliches Begleitbuch. Dieses enthält bislang unveröffentlichte Fotos, auf denen Geiger und Orchestermitglied Gustav Zimmermann die gemeinsame Zeit aus nächster Nähe festgehalten hat. Zudem erzählen der Schriftsteller Haruki Murakami, Ozawas Tochter Seira und der Berliner Journalist Frederik Hanssen von persönlichen Begegnungen und Erlebnissen mit dem japanischen Dirigenten. Seiji Ozawa war an der ursprünglichen Planung dieser Edition beteiligt.
Inhalt der Box 6 CCs und 1 Blu-ray Disc
Berliner Philharmoniker – Seiji Ozawa
- Ludwig van Beethoven: Leonoren-Ouvertüre Nr. 2 C-Dur op. 72
- Max Bruch: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 g-Moll op. 26. Pierre Amoyal, Violine
- Maurice Ravel: Konzert für Klavier und Orchester G-Dur, Martha Argerich, Klavier
- Béla Bartók: Konzert für Viola und Orchester Sz 120, Wolfram Christ, Viola
- Joseph Haydn: Symphonie Nr. 60 C-Dur „Il distratto“
- Peter Iljitsch Tschaikowsky: Symphonie Nr. 1 g-Moll op. 13 „Winterträume“
- Anton Bruckner: Symphonie Nr. 7 E-Dur
- Gustav Mahler: Symphonie Nr. 1
- Paul Hindemith: Symphonia Serena
- Hector Berlioz: Symphonie fantastique op. 14
- Richard Strauss: Eine Alpensinfonie op. 64
- Richard Wagner: Tristan und Isolde, Vorspiel und Liebestod
Blu-ray (Videos)
- Ludwig van Beethoven: Egmont op. 84: Ouvertüre
- Ludwig van Beethoven: Fantasie für Klavier, Chor und Orchester c-Moll op. 80 „Chorfantasie“, Peter Serkin, Klavier, Rundfunkchor Berlin
- Felix Mendelssohn Bartholdy: Elias, Oratorium op. 70, Annette Dasch, Gal James, Sopran, Nathalie Stutzmann, Nadine Weissmann, Alt, Paul O’Neill, Anthony Dean Griffey, Tenor, Matthias Goerne, Bariton, Fernando Javier Radó, Bass, Rundfunkchor Berlin
- Anton Bruckner: Symphonie Nr. 1 c-Moll (Linzer Fassung)
- Bonus: Seiji Ozawa wird Ehrenmitglied der Berliner Philharmoniker
Fazit: Ein Geschenk für alle, die den unfasslichen Orchestersound der Berliner Philharmoniker in einer Kooperation mit einem geschätzten, ja geliebten Gegenüber am Pult hören wollen. Sehen Sie nur im Konzert von 2016, mit welcher unfasslichen Konzentration das Orchester aufspielt, wie es dem schon von der Krankheit mitgenommenen Musiker jeden kleinsten Wunsch von den Lippen abliest. Ereignishaft und unwiederbringlich. Riesenempfehlung!
Dr. Ingobert Waltenberger