CD: Astor Piazzola Théo Ould, Accordéon Alpha-Classics, ALPHA1181
Théo Oulds Hommage an Astor Piazzolla
Astor Piazzolla ist einer dieser Komponisten, die sich partout nicht in eine Schublade stecken lassen. Der Mann hat den Tango aus dem Tanzsaal gezerrt, ihm die Haare zerzaust und ihn in die große Welt der Konzertmusik gestellt. Herausgekommen ist eine Musik, die zugleich rau und anmutig, melancholisch und trotzig wirkt. Wer glaubt, Tango sei bloß rotes Kleid, Rosen im Mund und stampfende Absätze, wird hier eines Besseren belehrt.
Die neue CD bei Alpha-Classics führt mitten hinein in dieses Piazzolla-Universum. Im Zentrum steht Théo Ould, ein junger Akkordeonist, der sich nicht scheut, die Werke des Meisters nach eigenen Vorstellungen zu bearbeiten. Man darf nicht vergessen: Piazzolla selbst war Bandoneon-Spieler, und so klingt jede Übertragung aufs Akkordeon zunächst nach einem kleinen Sakrileg. Doch Ould tut das mit solchem Ernst und zugleich solcher Spielfreude, dass man das schnell vergisst. Er hat Blanche Stromboni am Kontrabass an seiner Seite und das Quatuor Bilitis, das ihm den Teppich aus Streichfarben legt – mal weich und schimmernd, mal kantig und beinahe widerborstig. Und als besonderer Gast glänzt die Mezzosopranistin Marina Viotti, die in „Balada para un loco“ den Text halb singt, halb deklamiert – genau die richtige Mischung aus Theatralik und Intimität.
Die Auswahl der Werke gleicht einer musikalischen Reise durch Piazzollas Welt: Von „Libertango“ bis „Adiós Nonino“ sind fast alle Klassiker dabei, allerdings in frischen Anordnungen. Schon das erste Stück, eine kleine Einleitung zum „Libertango“, klingt, als würde sich das Akkordeon vorstellen – nicht als stählernes Instrument, sondern als atmender Körper. Danach der berühmte „Libertango“ selbst: forsch, ruppig, mit den Streichern als polterndem Gegenüber. Kein elegantes Glattbügeln, sondern Musik mit Ecken.
„Balada para un loco“ ist ein besonderer Moment: Viotti beginnt beinahe flüsternd, wie jemand, der eine Geschichte erzählt, die eigentlich viel zu persönlich ist. Und dann bricht die Musik auf, sinnlich, voller Farbe – man riecht förmlich Buenos Aires nach Regen und Tabak. „Violentango“ dagegen schießt wie eine Rakete los: Solist und Streicher jagen einander, als spielten sie Fangen.
Im „Invierno Porteño“ herrscht erst Winterruhe: der Kontrabass stapft schwerfällig los, die Geige hebt eine wehmütige Linie an. Doch lange hält sich die Melancholie nicht, bald gerät die Musik ins Rollen, bis man beinahe mittanzt. „Oblivion“ kommt wie aus einem Traum: verschwommen, neblig, ein bisschen so, als würde die Erinnerung an eine verlorene Liebe wieder auftauchen. Ganz anders „Vuelvo al Sur“ – lebendig, ja frech, als zwinkere die Musik dem Hörer direkt zu.
Besonders auffällig ist „La muerte del ángel“: hier pocht der Rhythmus wie ein Herz, manchmal unentschieden, dann wieder klar und unmissverständlich. „Adiós Nonino“, Piazzollas vielleicht berühmtester Tango, gerät hier zum stolzen Abschied – nicht weinerlich, sondern mit erhobenem Haupt. Und „Meditango“ am Schluss bündelt noch einmal alle Kräfte, so dass man glauben kann, die Musiker hätten ihre Instrumente angefeuert, bevor sie sie beiseitelegen.
Die Klangqualität? Direkt und sehr nah. Man hört das Ziehen des Balgs, das Atmen zwischen den Phrasen, sogar das Kratzen der Bögen. Wer Aufnahmen mit großem Hall und weiter Bühne gewohnt ist, könnte das zunächst ungewohnt finden – doch gerade diese Nähe passt zu Piazzolla. Seine Musik will ja kein Hochglanz sein, sondern Leben pur.
Natürlich gibt es Vergleichsaufnahmen: Gidon Kremer, Yo-Yo Ma und andere haben Piazzolla in den Konzertsaal getragen, oft mit klassischem Glanz und Noblesse. Dagegen wirkt Oulds Ansatz ungekämmt, persönlicher, vielleicht nicht immer makellos, aber ehrlich. Gerade dieser Eigensinn macht die Einspielung reizvoll – und sei es, weil man im einen Moment jubelt und im nächsten denkt: hier hätte es noch tiefer gehen können.
Unterm Strich ist das eine Aufnahme, die Piazzolla frisch und ungestüm atmen lässt. Kein Denkmal, keine Hochglanzvitrine, sondern ein lebendiger Abend in Buenos Aires, den man ins heimische Wohnzimmer importieren kann. Und wer dabei tatsächlich versucht, zwischen Sofa und Bücherregal ein paar Tangoschritte zu wagen – nun, auch über Stolpern kann man lachen. Piazzolla hätte daran vermutlich seine Freude gehabt.
Dirk Schauß, im September 2025
Astor Piazzola
Théo Ould, Accordéon
Alpha-Classics, ALPHA1181