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CD ANTONIO CALDARA: GIOSEFFO CHE INTERPRETA I SOGNI – Weltersteinspielung live aus dem Tempio Valdese Torino vom 29.11.2024; Glossa

05.06.2025 | Allgemein, cd

CD ANTONIO CALDARA: GIOSEFFO CHE INTERPRETA I SOGNI – Weltersteinspielung live aus dem Tempio Valdese Torino vom 29.11.2024; Glossa

Besser geht nicht: Wiederentdecktes Barockoratorium aus Wien mit einer traumhaften Besetzung in der mitreißenden musikalischen Leitung von Alessandro De Marchi

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Wer was kann, der wird auch was. Das beste Beispiel dafür ist der aus Venedig gebürtige Antonio Caldara. Vorausgesetzt zum brillanten Talent gesellen sich Inspiration, Ehrgeiz, Fleiß, die passenden Posten zur richtigen Zeit und eine fundierte gesellschaftliche Verankerung. Dass Caldara einen guten Griff und wohl auch Glück mit seinen „Chefs“ hatte, ist unleugbar. Als musico contralto und maestro die Capella reüssierte der junge Caldara in Venedig und Mantua. In Barcelona trat er in die Dienste des Habsburger Königs Karl. III, der sich später als Kaiser Karl IV. des Heiligen Römischen Reiches seines begabten Musikus entsann. Er berief ihn in Wien nicht nur zum Vizekapellmeister der Wiener Hofkapelle unter Johann Joseph Fux, sondern dirigierte einige seiner Werke selbst. Zwischen Barcelona und Wien, also von 1709 bis 1716, wirkte Caldara in Rom unter keinen Geringeren als dem mächtigen Fürsten Francesco Maria Ruspoli und Kardinal Ottoboni.

In seiner Wiener Reifezeit ab 1716 schuf dieser Caldara neben Händel die opernhaft schönsten, ergreifendsten und klangprächtigsten geistlichen Oratorien des 18. Jahrhunderts.  Insgesamt 43 Oratorien flossen aus Caldaras Feder, von denen es vor allem „Maddalena ai piedi di Cristo“, „Morte e Sepoltura di Christo“ und ein „Stabat Mater“ nicht zuletzt dank hervorragender Einspielungen zu größerer Bekanntheit gebracht haben. Aber auch sonst war der Output von Caldara überwältigend: Insgesamt umfasst sein Oeuvre weit über 3000 Titel, darunter 80 Opern und 150 Messen.

Das besondere von Caldaras Musik im streng katholischen Wien bestand einmal darin, dass Caldara die ungeheure Bandbreite an Affekten, die es in einer Oper gibt, musikalisch weiter pflegte, ja umgelegt auf die religiösen Sujets verfeinerte und über den Umweg von Geschichten aus der Bibel in melodisch überbordende, überaus kantable Arien, Duette und Chöre goss. Dazu kombinierte Caldara alle imitatorisch kontrapunktischen Finessen deutscher Provenienz (Kanon, Fugen, Doppelfugen etc.) mit einer mediterran melodischen Anmut, einer glitzernden virtuosen Pracht sowie einer raffinierten Instrumentierungskunst sondergleichen.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass der aufmerksame Hörer im nun erstmals auf Tonträgern zugänglichen, 1726 in Wien uraufgeführten und in der Waldenser Tempelkirche/Turin am 29.11.2024 neuzeitlich wieder aus der Taufe gehobenen Oratorium „Joseph, dem Traumdeuter“ hochexpressive Kantilenen des Gioseffo, von einem Chalumeau (Schalmei/Rohrblattinstrument“, Holzblasinstrument mit einfachem Rohrblatt, Vorläufer der Klarinette) reizvoll melancholisch untermalt zu hören bekommt. Für Josefs elfminütige Arie im zweiten Teil, in der er seine Sehnsucht nach Freiheit besingt (‚Libertá cara, e gradita‘), wiederum greift Caldara auf ein Psalterium, eine griffbrettlose Brettzither, mit ihrem delikaten, zart glitzernden Klangsprühen zurück. Nicht weniger reizvoll erklingt das mit festlichen Trompetenfanfaren unterlegte Duett von Faraone und Coppiere ‚Dolce suono di tromba giuliva‘.

„Gioseffo che interpreta i sogni“ geht auf ein Libretto von Giovan Battista Neri zurück. Dieser Schriftsteller reicherte die Geschichte des wegen der falschen Beschuldigung durch Potiphars Frau im pharaonischen Gefängnis einsitzenden Josef (Genesis 40-41) dramaturgisch geschickt um die Figuren eines Erzählers (Testo) und des buffonesken untreuen Dieners Zedekia (Sedecia) an. Dem Oberbäcker (Panatiere), der gehenkt werden soll, und dem Obermundschenk (Coppiere) deutet Josef die Träume. Das entgeht dem Geburtstag feiernden Pharao nicht, der endlich verstehen will, was ihm seine Träume Staatstragendes sagen wollen. Josef wird vorgeführt und kündet von den berühmten sieben Jahren des Überflusses und sieben Jahren Hungersnot. Als Dank für seine Weisheit wird er vom Pharao in den Rang eines Ministers erhoben.

Caldara stattet die Musik, geteilt in Sinfonia, Arien, Rezitativen, Duetten und Finalchören, mit aller Kunstfertigkeit venezianisch barocker Verführung, früher „Galanterie“ und dichtem kontrapunktischen Flechtwerk aus. Wann immer ich Caldara höre, und das ist mangels vergleichsweise geringen Angebots (man denke etwa an den bestens erforschten und dokumentierten Vivaldi) nicht sonderlich oft, bin ich von seiner Musik genauso hingerissen wie von den Spitzenwerken eines Händel, eines Vivaldi, eines Porpora.

Das mit den wissenden Kräften von Consort & Coro Maghini unter Alessandro De Marchi nun dem Vergessen entrissene Oratorium „Gioseffo“ bildet da keine Ausnahme. Im Gegenteil. Es ist die beste und differenziertest interpretierte Caldara-Einspielung, die ich kenne. Dazu gehört, dass die gesamte Besetzung nicht die geringste Schwachstelle aufweist.

Das beginnt Auftritts-chronologisch mit dem lyrischen Bariton Mauro Borgioni als Testo. Mit satter Tiefe, leichter Höhe und weit geatmeten Legatobögen gibt er einen mitfühlenden Kommentator des biblisch-christlichen Geschehens.

Die Kontraaltistin Margherita Maria Sala darf als Gioseffo eine Vielfalt an Emotionen zwischen Trauer, Resignation, Trost und die Besinnung auf Gottvertrauen durchleben. Die goldbrokaten timbrierte Altistin verfügt über eine üppige tiefe Lage, und kann mit Tugenden wie Beweglichkeit, glasklar präzisen Verzierungen und vor allem mit einer pastos-ruhig geführten Stimme in allen Lagen punkten.

Demgegenüber ist die Rolle des Josef vorerst illoyalen Coppiere mit einer lyrischen Koloratursopranistin besetzt. Eleonora Belloccis substanzvoller Sopran springt in der klangvollen Mittellage wie der hell leuchtenden Höhe gleichermaßen gut an. Die Verzierungen lädt sie expressiv auf, die musikalischen Bögen fließen freudvoll. In der Arie ‚Fulminate un core ingrato‘ erfreut sie mit glockenreinen Fiorituren, mit Bravour mal genussvoller Italianità.

Der Rolle des Oberbäckers leiht die französische Altistin Lorrie Garcia ihren von exquisitem Timbre und dramatischem Stimmcharakter her an Elisabeth Höngen erinnernden Alt. Mit enormer Agilität und dunkler Passion hadert die Figur mit ihrem schmerzvollen Schicksal und verflucht den grausamen Tyrannen.

Der Pharao wird von Luigi De Donatos einschmeichelnd timbrierten Bass in schwarz glänzende, aristokratische Eleganz gehüllt. Der Alte Musik-Star Arianna Venditelli darf mit ihrem Sopran in der für ein geistlich ernstes Oratorium untypischen Rolle der Sedecia in zwei Duetten mit dem Pharao und dem Coppiere prunken.

Alessandro De Marchi und den Seinen ist mit dieser Entdeckung ein veritabler Coup gelungen.

Hoffen wir, dass solche solitären Publikationen wie die vorgestellte und das glühende Engagement solcher Persönlichkeiten wie des neuseeländischen Caldara-Forschers und Publizisten Brian W. Pritchard das Interesse an dem Schaffen Antonio Caldaras auf das Niveau hebt, wie dies anderen neapolitanischen oder venezianischen Komponisten des 18. Jahrhunderts schon seit Langem in großer Selbstverständlichkeit entgegengebracht wird.

Für alle Liebhaber des äußerst raffinierten spätbarocken Wiener „Imperialstils“ unverzichtbar!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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