CD ANTONIA BEMBO: L’ERCOLE AMANTE – Weltersteinspielung mit IL GUSTO BAROCCO unter JÖRG HALUBEK; cpo
Sensationell, dass eine am 26. Mai 2023 in der Stuttgarter Liederhalle uraufgeführte Oper aus den Anfängen des 18. Jahrhundert stammt und daher über 300 Jahre alt in irgendwelchen Archiven überdauerte. Und erst recht bietet diese Geschichte rund um den in eine jüngere Frau verliebten Herkules subtilen Humor, eine betörende musikalische Substanz, eine bekömmliche Mischung aus italienischer Virtuosität gewürzt mit einem französisch rhythmisch ausgefeilten Gestus. Dazu erwartet die Hörerschaft eine quicklebendige, sängerisch anregende musikalische Umsetzung.
Antonia Bembo, eine venezianische Sängerin und Komponistin, hatte ein bewegtes Leben. Gutbürgerlich geboren, genoss sie eine profunde musikalische Ausbildung u.a. vom Opern-Superstar und damaligen Markuskapellmeister Francesco Cavalli und die verwegene Barbara Strozzi. Pech, dass Antonia als 19-Jährige ausgerechnet mit dem Aristokraten Lorenzo Bembo verheiratet wurde. Dieser brutal grausliche Mann verprasste ihr Vermögen, betrog sie frech und prügelte Antonia auch noch. 13 Jahre Ehehölle später scheiterte der Versuch, sich scheiden zu lassen. Also nutzte Antonia die Gelegenheit, mit dem designierten venezianischen Botschafter nach Frankreich/Paris zu reisen und Venedig ade zu sagen. Ludwig XIV. erwies sich als freundlicher, Antonia Bembo auch künstlerisch – vor allem als Sängerin – anerkennender Protektor. Er erkannte ihr eine Pension zu und brachte sie im christlichen Damenstift „Petite Union Chrétienne des Dames de Saint-Chaumont“ unter.
In Paris schrieb sie vor allem weltliche und geistliche Kantaten in italienischer und französischer Sprache sowie petits und grands motets. 1707 vertonte Antonia Bembo das auch von Francesco Cavalli als Opernstoff genutzte Libretto „L’Ercole amante“ von Francesco Buti neu. Legendär ist Cavallis „‘L’Ercole amante“ nicht nur deshalb geworden, weil die Festoper zwar von Kardinal Mazarin für die Eheschließung Ludwig XIV. mit der spanischen Infantin Maria Teresia 1660 bestellt worden war, aber das Stück nicht rechtzeitig fertig wurde.
Erst 1662 fand die Uraufführung statt und weitere 45 Jahre später stürzte sich Antonia Bembo auf die Textvorlage, die zu diesem Zeitpunkt als garantiert veraltet galt. Auf eine szenische Aufführung durfte die Tonsetzerin zu ihren Lebzeiten nicht hoffen und es kam auch nicht dazu. Allerdings lieferte sie mit ihrem „L’Ercole amante“ in dem ewigen Hin und Her zwischen den ideologisch verstrickten Vorzügen bzw. der rechten Mischung von typisch italienischen und französischen Elementen in der musiktheatralischen Welt von Paris ein vitales Exempel.
Während andernorts das musikalische Herz schon längst für elendslange, koloraturgespickte da capo Arien schlug, war Bembos Oper mit instrumentalen Einlagen, Chören, komischer wie tragischer Vokalartistik noch ganz anders gebaut. Silke Leopold resümiert den möglichen Antrieb der Komponistin im Booklet folgendermaßen: „Ihre Auseinandersetzung mit Ercole amante ist eine sehr persönliche Rückschau auf eine Opernform, die nirgendwo mehr existierte, ein eigener Beitrag, der gar nicht für die Öffentlichkeit selbst gedacht war, vielleicht eine letzte imaginäre Konversation, eine letzte Hommage an den alten Sonnenkönig, der sich für Oper schon seit längerer Zeit gar nicht mehr interessierte, dem sie aber viel zu verdanken hatte.“
Das akademische Gezänk des 18. Jahrhunderts interessiert heute keinen mehr. Aber natürlich fasziniert die knackige musikalische Kraft der Partitur. Die frischsängerisch, vokalsinnliche, unterhaltsam-flotte Interpretation ist schon aus sich heraus ein pures Vergnügen für Melomanen. Wie bei Cavalli ist die Titelpartie des Herkules einem Bariton anvertraut.
Der johannestriebige Held hat nämlich, seiner Gattin Dejanira erotisch überdrüssig, nichts Besseres vor, als mit Hilfe der Liebesgöttin Venus seinem Sohn Hyllo dessen Geliebte Iole auszuspannen. Es soll ja in engen Familienkreisen durchaus öfter vorkommen, dass der eine will, was der andere hat. Gott sei Dank gibt es die gestrenge Juno, Göttin der Ehe und Fürsorge. In Eintracht mit der Grazie Pasithea und dem zauberischen Tiefschlaf will sie ihren Plan zur Rettung Ioles umsetzen. Nur hindert Hyllo Iole daran, seinen schlafenden Papa zu töten. Da sich jede gute Tat bekanntlich rächt, glaubt Herkules, in seinem Sohn mit dem Schwert in der Hand einen potenziellen Mörder zu erkennen. Der so Gestrafte als auch emotional betrogen Geglaubte erfährt im Gefängnis von der Hochzeit Ioles mit seinem Vater und stürzt sich selbstmörderisch ins Meer. Während Juno und Neptun den armen Wirrkopf aus den Fluten retten, hat Lichas, eigentlich Diener des Herkules, die final wirksame Idee mit dem Umhang des Zentauren Nessus. Dieses antike, berüchtigte Kleidungsstück soll Herkules wieder Dejanira begehren machen. In Wirklichkeit verbrennt es seinen Träger. Juno hat aber für den toten Helden keinen schlechten Trost parat: Herkules wird – wohl eher für sein „Lebenswerk“ als für die erotische Verirrung – in den Olymp aufgenommen und erhält dort „La Bellezza“ (=die Schönheit), zur Frau.
Die Musik der Oper ist traumhaft und mindestens ebenso beeindruckend im melodischen Reichtum, ihrer im Grunde rezitativisch-arios durchkomponierten Manier und der harmonisch/rhythmischen Raffinesse wie das genauestens erforschte und durch viele Aufnahmen bekannte Klanguniversum Cavallis. Anm.: Von letzterem steht beim diesjährigen Festival Bayreuth Baroque eine Neuinszenierung der Oper „Pompeo Magno“ im Mittelpunkt des Interesses (Musikalische Leitung und Cembalo Leonardo García-Alarcón, Regie und Interpret der Titelpartie Max Emanuel Cencic).
Antonia Bembo treibt die Ironisierung der Geschichte weiter als ihr Lehrmeister. Sie weiß mit einem gelungenen Mix aus tragischen und komischen Elementen und mit gekonnt fließenden Übergängen von rezitativischen zu arioseren Passagen zu punkten.
Die Besetzung ist schlichtweg genial. Allen voran der samtig-virile Bariton des Yannick Debus als vokal äußerst attraktiver Herkules. Während die bulgarische Sopranistin Alena Dantcheva als Dejanira das undankbare Schicksal der abgelegten Ehefrau verkörpern muss, darf die Osttirolerin Anita Rosati als allseits begehrte Iole ihren lyrischen Sopran wohlklingend fluten lassen. Der Haute Contre David Tricou ist als Hyllo artikulatorisch und von der Charakterzeichnung der Figur her als durch die Loyalität zu seinem Vater und die Liebe zu Iole Zerriebener ein Ereignis. Aber auch Flore Van Meerssche (Giunone), Chelsea Marilyn Zurflüh (Venere, Pasithea), der junge, an der Schola Cantorum in Basel ausgebildete Countertenor Arnaud Gluck (Paggio), der venezolanische Tenor Andrés Montilla Acurero (Licco) und der ehemalige Sängerknabe Hans Porten (Nettuno, Eutyro, Mercurio) verströmen vokale Wonnen ohne Abstriche.
Jörg Halubek bringt mit seinem Ensemble Il Gusto Barocco die Quintessenz dieser Musik zum Leuchten und zum Weinen. Ein Wurf! Und tritt damit einmal mehr den Beweis an, dass nicht nur berühmte französische Spezialisten und Labels früh- bis hochbarocke Meisterwerke auf Weltklasseniveau präsentieren.
Dr. Ingobert Waltenberger