Anton Bruckners Neunte: Eine viersätzige Vision unter Kahchun Wong und dem Hallé Orchestra
Die Frage, wie Anton Bruckners neunte Sinfonie zu Ende gedacht war, beschäftigt Musikwissenschaftler und Liebhaber seit über einem Jahrhundert. Der Komponist hinterließ nur Fragmente des vierten Satzes, doch die jüngste Rekonstruktion durch Dr. John A. Phillips – eine Weiterentwicklung der Arbeit von Samale, Phillips, Cohrs und Mazzuca – bietet heute die seltene Gelegenheit, das Werk so zu erleben, wie es vielleicht hätte sein können. Diese Live-Aufnahme des Hallé Orchestras unter der Leitung von Kahchun Wong, eingespielt 2024 in der Manchester Bridgewater Hall, ist mehr als nur eine weitere Interpretation: Sie ist eine kühne Annäherung an eine unvollendete Vision.
Kahchun Wong, ein Dirigent, der zurecht zu den interessanten seiner Generation zählt, führt das Hallé Orchestra mit einem langen Atem und kontrollierter Dynamik. Sein Zugang zu Bruckner ist weder akademisch noch bloß monumental, sondern sucht konsequent die Balance zwischen struktureller Klarheit und jener spirituellen Weite, die das Werk prägt. Die Musik Bruckners ertönt weich, Ecken und Kanten sind geglättet, der Wohlklang dominiert.
Schon die ersten Takte zeigen Wongs Gespür für architektonischen Spannungsaufbau. Das düstere Tremolo der Streicher, aus dem sich das Hauptthema erhebt, ist hier nicht bloße Einleitung, sondern wirkt wie eine klangliche Erzählung, die sich Schritt für Schritt entfaltet. Das Hallé Orchestra arbeitet mit feinen dynamischen Abstufungen, sodass jeder Forte-Ausbruch als natürliche Konsequenz erscheint. Besonders eindrucksvoll sind die Horn- und Posauneneinsätze, die nicht laut, sondern ungewöhnlich weich wirken. Wong gibt dem Satz viel Raum zur Entfaltung, gerät dabei aber auch ins Schwerfällige – eine Gratwanderung, die hier nicht gelingt. Dynamik und Phrasierung sind hingegen gut austariert, sodass in den Streicher- und Holzbläserstimmen zahlreiche Details farbig hervortreten. Die Tuttipassagen hingegen wirken zuweilen bleiern und rhythmisch unentschieden. Wong erlaubt sich keine zugespitzten Akzente, sondern bleibt konsequent ausgewogen.
Das Scherzo, häufig als dämonisch-tänzerischer Kontrast verstanden, beginnt mit spannungsvoll gestalteten Pizzicati, verliert jedoch plötzlich rasch an Kontur. Wong wählt ein zu getragenes Tempo, die rhythmische Schärfe bleibt auf der Strecke. Die Akkorde wirken gedehnt, die Pauke artikuliert schwammig – das Scherzo tritt über lange zwölf Minuten auf der Stelle. Im Trio findet sich ein etwas flüssigeres Tempo, doch auch hier bleibt der Eindruck diffus. Insgesamt gerät dieser Satz leider nicht überzeugend. Schade.
Das Adagio, oft als Bruckners „Abschied von der Welt“ interpretiert, wird zum emotionalen Zentrum der Aufnahme. Wong entscheidet sich erneut für ein gemessenes Tempo, das Raum für weite Spannungsbögen lässt. Die Streicherphrasierungen besitzen vokale Sanglichkeit, während die Blechbläser in den Höhepunkten eine sensible Strahlkraft entfalten. Und doch entsteht der Eindruck, dass dem Orchester im Moment der dissonanten Zuspitzung die Energie ausgeht – jegliche expressive Zuspitzung wird vermieden. Berührend ist hingegen der letzte Abschnitt, in dem sich die Musik in ein klangliches Schweben auflöst – Wong und das Hallé Orchestra halten die Spannung bis zum letzten Ton, ohne ins Sentimentale abzugleiten.
Die große Frage dieser Einspielung bleibt der rekonstruierte Schlusssatz. Die Antwort: überraschend überzeugend. Phillips’ Bearbeitung vermeidet den Eindruck eines musikwissenschaftlichen Puzzles und formt stattdessen einen Abschluss von bemerkenswerter Geschlossenheit. Wong behandelt den Satz nicht als Anhang, sondern als integralen Bestandteil des Gesamtwerks. Die thematischen Rückbezüge auf die vorherigen Sätze werden deutlich, ohne
didaktisch zu wirken. Besonders hervorzuheben sind die Fugato-Passage, in der das Orchester mit beeindruckender Präzision spielt, sowie der groß angelegte Schlusschoral, der das Werk in einer nahezu apotheotischen Lichtflut enden lässt. Kritiker mögen einwenden, dass Bruckners letzte Absichten nicht rekonstruierbar sind – doch diese Version kommt dem Ideal sehr nahe und bleibt stilistisch eng an Bruckners Sprache.
Diese Einspielung ist mehr als eine weitere Bruckner-Neunte: Sie ist eine künstlerische Aussage, die die Grenze zwischen Musikwissenschaft und Interpretation auslotet. Kahchun Wong und das Hallé Orchestra bieten eine Lesart, die ambivalent bleibt – nicht durchgehend überzeugend, aber intellektuell anregend. Die Klangqualität ist direkt und kompakt, allerdings insgesamt etwas zu dumpf abgemischt. Wong bestätigt mit dieser Aufnahme seinen Ruf als Dirigent mit Potenzial, doch zugleich wird deutlich: wer mit ihm die die Musik Gustav Mahlers einmal gehört hat, der kommt unweigerlich zum Eindruck, dass ihm dessen Klangwelt hörbar näher steht. Man darf gespannt sein, was noch von Kahchun Wong zu erwarten ist.
Dirk Schauß, im April 2025
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 9
Hallé Orchestra
Kahchun Wong, musikalische Leitung
Hallé, CDHLD7566