Klang der letzten Dinge – Paul Kletzkis Vermächtnis mit Bruckners Siebter
Ein letzter Gruß eines großen Dirigenten: 39 Tage vor seinem plötzlichen Tod stand Paul Kletzki im Herkulessaal des Münchner Residenzkomplexes am Pult des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Es sollte sein Abschied werden – nicht geplant, nicht angekündigt, aber mit jener Würde und musikalischen Tiefe versehen, die einem solchen Moment gerecht werden. Auf dem Programm: Anton Bruckners Siebte Symphonie in E-Dur, eine Partitur von transzendenter Schönheit, von innerer Weite und mystischer Versenkung. Nun ist diese Aufnahme bei Janus Classics in überragend restaurierter Klangqualität wieder greifbar – eine Wiederentdeckung, die nicht nur technisch, sondern auch interpretatorisch als bedeutend gelten darf.
Paul Kletzki, 1900 in Łódź geboren, war nicht nur ein Dirigent von Rang, sondern auch Komponist, geprägt von der geistigen Welt Gustav Mahlers und der Expressivität des 20. Jahrhunderts. Seine Karriere, von politischem Exil und tiefem Humanismus durchzogen, führte ihn an bedeutende Podien, doch nie mit dem medialen Nachhall etwa eines Karajan oder Solti. Seine Diskografie blieb überschaubar, doch fein. Dass gerade seine einzige erhaltene Bruckner-Interpretation nun in derartiger Pracht zugänglich gemacht wurde, ist ein großer Glücksfall.
Das Repertoire dieser CD beschränkt sich auf ein einziges Werk – und das genügt vollkommen: Bruckners Siebte, in der revidierten Fassung von 1885, ediert von Leopold Nowak. Eine Sinfonie, die mit ihrem Adagio dem Tod Wagners huldigt, aber auch als Versuch gelten kann, eine metaphysische Brücke zwischen der irdischen Klangwelt und einem jenseitigen Raum zu schlagen. Paul Kletzki nähert sich dieser Musik nicht durch Pathos, sondern durch Struktur, nicht durch sakrale Monumentalität, sondern durch atmende Formung. Seine Interpretation meidet jede Schwere, bleibt jedoch stets von erhabener Tiefe durchzogen.
Was diese Veröffentlichung aber in eine ganz eigene Klasse hebt, ist die klangliche Aufbereitung. Das 32-Bit-Spectral-Remastering, das weit über konventionelle Restauration hinausgeht, erlaubt eine Dynamik und Transparenz, die selbst heutigen Referenzproduktionen kaum nachsteht. Die Frequenzebenen wurden isoliert, neu balanciert, ohne die natürliche Wärme zu verlieren. Blechbläser leuchten mit goldenem Glanz, die Streicher behalten ihre samtige Geschlossenheit, und die Holzbläser schimmern mit kristallklarer Artikulation. Der Raum des Herkulessaals öffnet sich vor dem Hörer in überzeugender Dreidimensionalität – ein akustisches Panorama, das zum Innehalten zwingt.
Kletzkis Zugang ist ein Meisterkurs in musikalischer Architektur. Er denkt Bruckner vom Satzbau her, in großer Linie und logischem Fluss. Schon der erste Satz offenbart diese konzeptionelle Klarheit: Mit nobler Ruhe entfaltet sich das eröffnende Hauptthema, das nicht wie bei manch anderem Dirigenten schwerfällig aus der Tiefe steigt, sondern sich mit kammermusikalischer Präzision und inniger Selbstverständlichkeit aufspannt. Kletzki verzichtet auf jegliche Verbreiterung zugunsten eines organischen Pulses, der die Spannung nicht aus der Monumentalität, sondern aus der inneren Bewegung bezieht. Der Kontrast zwischen den Themenblöcken ist fein modelliert, nie plakativ, und die Durchführung gewinnt durch strukturelle Durchhörbarkeit und saubere dynamische Steigerung.
Das Adagio, oft zur pathetischen Stillstandsmeditation verformt, bleibt bei Kletzki in Bewegung: er betrachtet diesen Satz nicht als Ende, sondern als Weg, als spirituelle Pilgerreise. Und dann der Höhepunkt: Der Beckenschlag – oft umstritten, manchmal weggelassen – erklingt hier mit goldener Strahlkraft und wird zum leuchtenden Zentrum des Satzes. Es ist ein Moment, der sich einprägt, nicht durch Effekt, sondern durch schlichte Richtigkeit. Kletzki gelingt es, die spirituelle Tiefe dieses Satzes mit einer Linearität zu verbinden, die nie in die Stagnation führt.
Das Scherzo – zupackend, doch federnd – gewinnt durch seine pointierte Rhythmik eine Klarheit, die sich selten so selbstverständlich einstellt. Es lebt vom Wechselspiel zwischen Dringlichkeit und Leichtigkeit, zwischen impulsivem Zugriff und tänzerischer Eleganz. Die Trio-Sektion wird bei Kletzki nicht als bloßer Ruhepol behandelt, sondern als lyrischer Kontrapunkt, der mit sprechender Artikulation und fließendem Atem überrascht. Die Holzbläser brillieren hier mit phrasiertem Charme, der fast an Schubert denken lässt.
Der Finalsatz schließlich ist der vielleicht größte Prüfstein für jeden Bruckner-Dirigenten – und Kletzki besteht ihn mit einer Mischung aus kontrollierter Energie und lichtvoller Gelassenheit. Die Exposition entwickelt sich nicht triumphalistisch, sondern mit gezügelter Würde. Der Wechsel zwischen rezitativischer Strenge und hymnischer Steigerung ist meisterhaft abgestimmt. Besonders beeindruckend ist, wie Kletzki den Schluss nicht als heroisches Ziel, sondern als logische Konsequenz eines musikalischen Denkprozesses gestaltet. Es gibt keine forcierte Apotheose, kein Ausstellen von Größe – vielmehr eine Erfüllung, die aus der musikalischen Notwendigkeit heraus entsteht. Der letzte Akkord wirkt nicht wie ein Posaunenruf, sondern wie ein Schlussstein: stark gesetzt und völlig unumstößlich.
Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erweist sich als idealer Partner. Keine Sektion drängt sich in den Vordergrund, alles atmet in Balance. Besonders hervorzuheben sind die Wagnertuben, die sich in die Gesamttextur einfügen, ohne je ornamental zu wirken. Die Holzbläser liefern ein Lehrstück an artikulatorischer Feinheit, während die Streicher das orchestrale Fundament mit organischer Dichte stützen. Es ist ein Kollektiv, das sich in den Dienst einer übergeordneten Vision stellt – die Vision eines Dirigenten, dessen Kunst in dieser Stunde nicht im Geringsten verblasst ist.
Diese letzte Aufnahme Paul Kletzkis ist nicht nur ein Dokument von historischem Rang, sondern eine der berührendsten Deutungen von Bruckners Siebter. Ihre Transparenz, ihre Weite, ihre seelenvolle Unaufdringlichkeit machen sie zu einer Referenzaufnahme. Dass ein junges Label wie Janus Classics sich dieser Rarität mit solcher Hingabe angenommen hat, verdient größte Anerkennung. Das Ergebnis ist eine Edition, die durch technische Brillanz, editorische Sorgfalt und ein exzellentes Beiheft mit seltenen Fotos und kenntnisreichen Texten überzeugt – und vor allem: durch Musik, die atmet, leuchtet, lebt. Wer Bruckner liebt, wird hier nicht nur fündig, sondern reich beschenkt.
Dirk Schauß, im April 2025
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 7 E-Dur
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Paul Kletzki, musikalische Leitung
Janus Classics, JACL-5