Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD: ANDREW LLOYD WEBBER: REQUIEM – Live Mitschnitt vom 15.6.2023; BR-Klassik

21.10.2024 | Allgemein, cd

CD ANDREW LLOYD WEBBER: REQUIEM – Live Mitschnitt vom 15.6.2023; BR-Klassik

Zum 75. Geburtstag des Musical-Komponisten: Patrick Hahn dirigiert das Münchner Rundfunkorchester und den Chor des Bayerischen Rundfunks

loy

Ich glaube, es war im März 1986. Wir (=die Wiener Singakademie) übten für eine konzertante Aufführung von Donizettis Oper „Poliuto“ mit Carreras und Ricciarelli im Wiener Konzerthaus. Oleg Caetani, der Dirigent, und ich kiebitzten nach der Chorsession die Generalprobe zu Lloyds Webbers „Requiem“, zumindest einen Teil davon. Der Befund: Irgendwie reizen diese Klänge schon etwas aus, kitzeln Emotionen an die Oberfläche, so berechnend schmachtend sie auch sein mögen. Raffinierter Zucker für die Seele. Trotz aller offensichtlichen bis unverschämten Anleihen aus der Musikgeschichte gelang es dem für seine Musicals Jesus Christ Superstar, Cats, Evita, Starlight Express oder Das Phantom der Oper bekannt und reich gewordenen britischen Komponisten, auch mit seinem Versuch, sich als ernsthafter Tonsetzer eines Sakralwerks zu etablieren, Gehör zu verschaffen.

Persönlich reizvoll bei seinem Ausflug in klassische Gefilde dürfte dabei für Andrew gewesen sein, dass sein Vater Kirchenmusiker, genauer Kirchenmusikdirektor an der methodistischen Westminster Central Hall und Lehrer am Royal College of Music war. Während Andrews Bruder Julian als Solo-Cellist in die Fußstapfen des Vaters trat, suchte Andrew seinen Weg in der Unterhaltungsmusik. Und fand ihn auch. Der breit gestreute Publikumszuspruch und der tatsächlich sagenhafte kommerzielle Erfolg blieben nicht aus. Gewusst, wie. Bald regnete es nur so vor Auszeichnungen wie Oscar, Emmy, Grammy Awards, Tony Awards und Golden Globe. Auch Wien blieb von dem Webber-Musical-Fieber mit Ohrwürmern wie ‚Memories‘ nicht verschont. Einige werden sich vielleicht daran erinnern, dass etwa im Theater an der Wien unter dem Intendanten Peter Weck jahrelang (1983 – 1990) gleichbleibende Aufführungen einer deutschsprachigen „Cats“ Produktion des Gillian Lynne u.a. mit Angelika Milster liefen.

Sein Vater William Lloyd starb 1982. 1984 hatte Lloyd-Webber das Requiem fertig. Diese in lateinischer Sprache gesungene Requiem-Vertonung wurde durch einen Artikel in der New York Times über einen kambodschanischen Buben inspiriert, der unter den Roten Khmer Unsägliches durchmachen musste. Uraufgeführt wurde die Verdi, Fauré („Pie Jesu“) und Orff ausdünstende, eklektische Totenmesse am 24. Februar 1985 in der Saint Thomas Church in New York. Soft-Popklänge, harmonische Gefühligkeit zum Schunkeln, nicht allzu heftige Dissonanzen, ein rhythmisches Vielerlei, häufige „Dies irae, dies illa“-Einwürfe, ein vierstimmiger Chorsatz und ein Quäntchen Kontrapunkt vermischen sich zu sonderbaren, das Jenseits diesseitig feiernden Klangmiasmen.

Rasch folgte 1985 eine Schallplatteneinspielung bei EMI mit Placido Domingo, der unvermeidlichen Cross-over sopranpiepsigen Sarah Brightman – ihres Zeichens die damalige Ehefrau des Komponisten – und dem Knabensopran Paul Miles-Kingston. Lorin Maazel leitete den Westminster Cathedral Choir und das English Chamber Orchestra. Die Kritik fand Zueignungen wie „tönende Zuckerwatte“ oder andere mehr oder weniger boshafte Formulierungen, viel davon nicht weniger sarkastisch. Christian Thomas Leitmeir nennt Lloyd Webber im Booklet schon nachsichtiger einen „gewieften Stilkopisten“, der das (Kammer)Orchester um ein großes Schlagwerk, Kirchenorgel und Synthesizer erweiterte.  

Zum 75. Geburtstag des Komponisten gab es am 15. Juni 2023 eine Aufführung in der Herz-Jesu-Kirche in München mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks und dem Münchner Rundfunkorchester unter der musikalischen Leitung von Patrick Hahn mit Soraya Mafi (Sopran), Benjamin Bruns (Tenor), Florian Markus und Henrik Brandstetter vom Tölzer Knabenchor als Solisten, deren Mitschnitt nun als Album bei BR-Klassik herausgekommen ist. Ergänzt wird das etwas über 40-minütige Requiem durch eine traumhaft schöne Wiedergabe von Samuel Barbers „Adagio for Strings“ in einer Aufnahme vom 1.–3.12.2021 aus dem Studio 1 des Bayerischen Rundfunks.

Wie immer man die Musik beurteilen mag, die Aufführung unter Patrick Hahn bietet die beste aller denkbaren klanglichen Welten, zumal die beteiligten instrumentalen wie vokalen Kollektive (der Chor des Bayerischen Rundfunks ist als unerhörter Luxus sowieso eine Wucht) aus München und die Solisten weitaus prägnanter, expressiver und kontrastreicher agieren als auf der mittlerweile historischen Aufnahme unter Lorin Maazel.

Achtung: Puristen, Hände weg! Oder Sie teilen meine Meinung, dass manchmal auch eine Stunde Kitsch nicht schadet. Für Lloyd Webber-Fans oder Bewunderer des Chors des Bayerischen Rundfunks ein Muss!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken