CD ALEXANDRE THARAUD – Klavierkonzerte von THIERRY PÉCOU, RAMON LAKZANO und ALEX NANTE; Erato
Weltersteinspielungen
„Der Solist bewegt sich wie ein Satellit im Orbit eines Orchesters, das als Echokammer wirkt.“ Ramon Lakzano
Grandios vielseitig ist er, neugierig und passt in keine Schublade. Der französische Pianist Alexandre Tharaud ist nach 25 Jahren Karriere noch so neugierig und aufgeschlossen wie am ersten Tag. Eine künstlerische Initialzündung erlebte Tharaud mit den Suiten von Jean-Philippe Rameau. Aber auch Komponisten wie Bach, Scarlatti, Mozart, Beethoven, Schubert, Chopin, Brahms, Rachmaninov stehen gerne auf den Menüplänen seiner Konzerte, ganz zu schweigen von französischen Komponisten des 17. bis zum 21. Jahrhundert (u.a. Couperin, Emmanuel Chabrier, Camille Saint-Saëns, Darius Milhaud oder Francis Poulenc), denen Tharaud völlig unspektakulär, dafür mit umso größerer, liebender Sorgfalt Stimme, Klang und Glanz verleiht.
Einen Marker in Tharauds Laufbahn bildete der ARD-Musikwettbewerb 1989 in München mit einem zweiten Preis. Aber erst das bahnbrechende Rameau-Album 2001 wies ihm den weiteren Weg, öffnete ihm Tür und Tor zu ausgefallenen Programmen. So gab und gibt Tharaud Werke bei mit ihm befreundeten Komponisten in Auftrag. Zeitgenössische Musik spielt sich zwar nicht allzu selten im Fadenkreuz von Kommerzialisierung/gefälliger Konsumierbarkeit oder hölzerner Verkopftheit ab. Aber es gibt positive Ausnahmen. Originell konzipierte Musik, die aufhorchen lässt und teils verschlungenen, teils schwindelerregenden Pfaden mit Ausblick folgt.
Wen also das „klassische“ Musikschaffen von heute interessiert, kann getrost bei den Programmen Tharauds starten und ist dabei auch noch gut aufgehoben. Schon 2020 hat Tharaud bei Erato ein Album mit „Concertos pour Piano contemporains“ herausgebracht. Damals schon ausschließlich mit Werken, die eigens für ihn komponiert wurden: Gerard Pesson: Klavierkonzert „Future is a faded Song“, Hans Abrahamsen: Klavierkonzert für die linke Hand „Left, alone“ und Oscar Strasnoy: Klavierkonzert „Kuleshov“.
In der Vergangenheit wie heute sind die Werkaufträge oftmals persönlichen Verbindungen von Komponisten mit Solisten bzw. Orchestern geschuldet. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Thierry Pécou sein „Cara Bali Concerto“ für Klavier und Orchester (2020), der französisch/spanisch-baskische Tonsetzer Ramon Lakzano sein „Mare Marginis“ für Klavier und Orchester (2022) als auch der jüngste von den dreien, Alex Nante, u.a. Gründer und künstlerischer Leiter des Vokalensembles Terra Lucida, sein Concerto pour piano et orchestre „Luz de lejos“ (2021) dem französischen Pianisten Alexandre Tharaud gewidmet haben.
Die entsprechenden Kompositionsaufträge stammten vom Auditorium, Orchestre National de Lyon, BBC-Radio 3 und der Opéra de Rouen Normandie (Pécou), Radio France, Euskadiko Orkestra und WDR Köln (Lakzano) bzw. Orchestre National de Lille und Beethoven Orchester Bonn (Nante). Dementsprechend wird Alexandre Tharaud bei Pécou vom Orchestre National de Lyon (Dirigent Jonathan Stockhammer), bei Lakzano vom WDR-Sinfonieorchester (Dirigent Sylvain Cambreling) und bei Nante vom Orchestre National de Lille (Dirigentin: Emilia Hoving) begleitet.
Das mich persönlich musikalisch am intensivsten erreichende Stück ist Pécous Cara Bali Concerto, das aus der Tradition des indonesischen Gamelans als Quelle „poetischer und formaler Inspiration“ schöpft. Im zweisätzigen Konzert greift Thierry Pécou auf den Stil des Gamelan Gong Kebyar mit seinen typischen Tempo- und Dynamikwechseln, Synkopierungen sowie exotisch-rhythmischen Mustern (Kotekan) zurück. Das experimentell-sinnliche Klangbild ist von Schlaginstrumenten wie Metallophonen (Saron), mit Schlägeln bedienten Klangplatteninstrumenten (Slenthem, Gender), zweireihigen Bronzekesselanordnungen (Bonang), schließlich verschiedenen Gongs und Trommeln (Kendang) bestimmt. Alle Instrumente des Gamelans werden per Hand hergestellt. Die Gong-Kebyar-Musik baut auf eine Fünf-Ton-Skala auf.
Großartig, wie Tharaud sein Klavierspiel mit der balinesischen Percussion, zauberischen Flötenklängen, gershwinartiger Quirligkeit und minimalistischen Techniken als Sternschnuppenschauer sprühen und hypnotisierend in den Himmel schießen lässt. Die hymnische Final-Apotheose hätte sicher auch Richard Strauss begeistert. Anm.: Von Thierry Pécou hat Alexandre Tharaud bereits 2009 das Album „Outre Mémoire“ gemeinsam mit dem Kammermusikensemble Zellig bei Aeon vorgelegt.
Ganz anders verhält es sich mit Ramon Lakzanos einsätzigem Konzert für Klavier und großes Orchester „Mare Marginis“. „Für Alexandre wollte ich die Tastatur neu erproben, die Geschicklichkeit ausschöpfen, über die Tasten hasten oder tonlos verweilen, sie mit herben Seufzern überfliegen oder in sie greifen, um die verborgenen, tief vergrabenen Resonanzen ihres Bodens zu erfassen, die Arme weit ausbreiten, das Instrument mit all seinen Frequenzen umfassen, um es mit einem seltenen, flüchtigen Gesang singen zu lassen, von zwei Kadenzen gekrönt“.
Der Begriff „Mare Marginis“ oder „Meer des Randes“ bezeichnet ein genau verortetes Wüstenmeer ohne Wasser auf dem Mond, das am äußersten Rand der lunaren Nahseite liegt. Das komplexe Stück um Erosion und Trugbilder gibt sich wesentlicher herber, klanglich karger und meteorologisch steiniger als Pécous „Bali-Stil.“ Tharaud zeigt sich hier entsprechend von einer technisch virtuosen, sachlich-nüchternen Seite.
Den Abschluss des Albums bildet Alex Nantes Concerto für Klavier und Orchester „Luz de lejos“, Teil eines Orchesterzyklus’ über das Licht. In diesem sechsteiligen Werk (Preludio, Toccata I, Anunciation-Juego, Canción de amor, Toccata II und Luz de lejos) geht es um das Spiel kontrastierender Klangfarben von Soloinstrument und Orchester. In einer speziellen symmetrischen Anordnung lädt die Musik in den Ecksätzen zu ruhiger Kontemplation, verschmelzen die beiden Toccaten zu einem feurigen Kreis für die romantischen „Duos für Klavier und Horn“ bzw. dem Liebeslied für „Klavier und Harfe“. Spannend ist, dass der Komponist mit dem Stück die enorme interpretatorische Bandbreite des Solisten lustvoll zur Diskussion stellt bzw. aus ihnen künstlerisch schöpft. Er bekennt dazu: „Ich hatte das Glück, im kreativen Prozess mit ihm zusammenzuarbeiten. Dieser Dialog hat das Werk sicherlich beeinflusst.“ Mir geht dieses Stück mit seiner improvisatorisch durchhauchten Intimität und kristallinen Klarheit besonders nahe.
Fazit: Ein großartiges, musikalisch-stilistisch scharf kontrastierendes, in den klanglichen Erkundungen unerschöpflich scheinendes Album. Mit mehrmaligem Hören erschließen sich immer wieder unerwartete Sichtweisen, kleine Oasen, weite Räume, eine Abfolge blühender und karger Landschaften. Alexandre Tharaud ist ein weiteres pianistisches Album mit berstender musikalischer Energie und überwiegend hellem Zukunftssinn zu danken.
Dr. Ingobert Waltenberger