Wolfgang Herles
FELSEN IN DER BRANDUNG
BRAUNFELS–HILDEBRAND: DIE GESCHICHTE EINER DEUTSCHEN KÜNSTLERFAMILIE
328 Seiten, Verlag Benevento, 2022
Alle großen Familien wissen, wie man „zusammen kommt“ – natürlich durch Heirat. Das wusste man in Fürstenhäusern und auf großen Bauernhöfen. Angeheiratete familiäre Bindungen haben sich oft als Gewinn herausgestellt. Im Fall der deutsch-jüdischen Familien Hildebrand und Braunfels war das Ergebnis sensationell. Innerhalb von fünf Generationen stellten sie Künstler (Bildhauer, Architekten, Komponisten, Musiker) und Wissenschaftler (Philosophie, Kunstgeschichte), die in der Geschichte Deutschlands eine gewichtige Rolle spielten.
Die Ehe von Bertel Hildebrand (das ist tatsächlich ein Frauenname) und Walter Braunfels, dem Komponisten der derzeit wieder viel gespielten Oper „Die Vögel“, fügte die Familien zusammen. Deren Geschichten gehen viel weiter zurück. Autor Wolfgang Herles verknüpft die auf einzelnen Biographien aufbauende Familiengeschichte meisterhaft,
Die beiden „Stammväter“ der Familien können als „48er“ gelten, liberale Demokraten, die bei der Revolution auf der Seite des Fortschritts standen und dafür auch Revolutionäre genannt wurden. Bruno Friedrich Hildebrand, Professor für Staatswissenschaften, heiratete eine Jüdin, was seine fünf Kinder nach jüdischer Sicht zu Juden machte (denn die Mutter entscheidet). Er war ein Mann, der, wie der Autor schreibt, „Ämter und Ehren“ sammelte, aber vor allem seinen Kindern ihre Wege ermöglichte.
Der andere Stammvater hieß ursprünglich „Lazarus“ mit Vornamen und war der Nachkomme jüdischer Schankwirte aus Braunfels am Taunus. Er konnte jene Schule besuchen, die Amschel Meyer Rothschild einst in Frankfurt für arme jüdische Kinder gegründet hatte, und machte von da an seinen Weg als Jurist und Unternehmer, Journalist und Literat (und zeitweise auch Theaterkritiker). Wie manche Juden damals (Börne, Heine) konvertiere er, um seinen gesellschaftlichen Aufstieg zu befördern. Mit Ausnahmen in der Familie hatten es die meisten von ihnen nicht mit der Religion, ob jüdisch, ob protestantisch, und doch wurde einer von ihnen geradezu eifernder Katholik… Aber sonst waren sie Männer und Frauen des Geistes und der Künste.
Ludwig Braunfels, wie er nun hieß, politisch immer aktiv, heiratete in zweiter Ehe die um Jahrzehnte jüngere Helene Spohr – ihr Großonkel war jener Louis Spohr, der zur Beethoven-Zeit als Komponist reüssierte. Hier kam wohl die musikalische Begabung in die Familie, die auf den Sohn Walter überging.
Bevor man von dessen Ehe erzählen kann, braucht man noch den Vater der Gattin: Der Bildhauer Adolf von Hildebrand ist eines der berühmtesten Mitglieder der Familie, der als junger Mann die Schule verließ, um das Leben zu suchen und die Kunst fand – und immerhin bezahlte Vater Bruno ihm ein Kloster bei Florenz, das Adolf ausbaute und zu einem Künstlertreffpunkt machte. Seine Skulpturen – besonders berühmt waren seine Büsten – umfassten Bildnisse u.a. von Wittelsbachern und Cosima Wagner (obwohl er Richard Wagners Musik verabscheute) sowie seiner Familienmitglieder. In München gibt es von ihm heute noch den Wittelsbacher-Brunnen und das Denkmal für den Prinzregenten Luitpold, er schuf auch für Bremen das einzige Bismarck-Denkmal, das diesen als Reiterstatue zeigt. Das „Hildebrandhaus“ steht noch heute an der Isar, von ihm entworfen, das Haus eines Künstlers wie die Stuck-Villa oder das Lenbach-Haus.
Mit Irene Schäuffelen, Tochter eines Papierfabrikanten, hatte er fünf Kinder, vier Töchter. Der einzige Sohn Dietrich Hildebrand wurde zum katholischen Philosophen, hoch geschätzt von Päpsten (einer davon, als er noch Ratzinger hieß), aber selbst kein Priester, da er an Sexualität glaubte (mit zwei Gattinnen hatte er zwei Söhne, seine zweite Frau war dem Autor eine wichtige Auskunftsperson zur Familiengeschichte).
Nun kommt man zu Adolfs Tochter und Dietrichs Schwester, jener hoch begabten Musikerin Bertel, die auch komponierte und in ihrer Jugend mit Wilhelm Furtwängler verlobt war. (Der Autor begreift nicht, dass die Furtwängler-Forschung ihr nicht viel mehr Beachtung schenkt.) Aber der Dirigent wollte nicht heiraten, der Komponist Walter Braunfels (Sohn von Ludwig / Lazarus) sehr wohl. Zu dessen Biographie gibt es eine sehr bezeichnende Anekdote – als nämlich eines Tages Hitler, noch ganz am Anfang seiner Karriere, bei dem Komponisten auftauchte, dessen Musik ihm so gefiel, und ihn beauftragen wollte, eine Hymne für die nationalsozialistische Bewegung zu schreiben. Braunfels lehnte ab und konnte später froh sein, das Dritte Reich mehr oder minder „untergetaucht“ zu überleben. Im übrigen vertritt der Autor die Meinung, es sei Bertels Einfluss gewesen, der Braunfels’ Tonsprache so konventionell gehalten habe. Ihre Familie war in jeder Hinsicht dermaßen der „Schönheit“, klassischer Schönheit, verpflichtet, dass man für einen „Neutöner“ wohl kein Verständnis gehabt hätte.
Bertel und Walter Braunfels hatten zwei Töchter und drei Söhne, Stephan, der Jüngste, starb im Zweiten Weltkrieg, Sohn Michael wurde Pianist, Sohn Wolfgang ein angesehener Kunsthistoriker. Dessen Gattin Sigrid Braunfels-Esche, Jahrgang 1914, ist noch immer am Leben. Sie ließ sich von der allmächtigen Familie nicht verschrecken und schrieb eine Biographie über den Großvater ihres Mannes, Adolf von Hildebrand.
Ihrem Sohn, Stephan Braunfels (genannt nach dem toten Onkel), Jahrgang 1950, gilt das letzte Kapitel des Buches – er konnte Wolfgang Herles seine Geschichte selbst erzählen. Er wurde Architekt, ein gleicherweise geschätzter wie umstrittener Künstler (in München hat er sich mit seinem Einsatz für den Hofgarten so viele Feinde gemacht, dass er dann nach Berlin abwanderte).
Streitbar waren sie alle, die Hildebrand / Braunfels, und das im besten Sinne, keine Duckmäuser vor Autoritäten. Die Familie bedeutete fast allen sehr viel, wenn sie auch für die Frauen, die hinein heirateten, etwas Erschreckendes hatte – in der Macht, mit der sie die Familienmitglieder zusammen hielt. Auch wurden immer die höchsten Ansprüche gestellt, und nur wenige haben sich aus dem Leistungsdruck der Familie ausgeklinkt wie Stephans jüngerer Bruder Georg, der es glatt verweigerte, etwas „Besonderes“ zu werden… aber auch das zeigt von Stärke.
Es ist ein ungemein anregendes Buch, voll von Fakten, dabei spannend erzählt, die einzelnen Menschen erstehen vor den Augen des Lesers (den Anteil an Bildern hätte man sich weit größer gewünscht). Außerdem reflektieren die Generationen zwei Jahrhunderte deutscher Geschichte. Dieses Buch ist eine Begegnung.
Renate Wagner