BONN: ERNANI von Giuseppe Verdi
17.6.2022 (Werner Häußner)
Copyright: Oper Bonn
„Ernani“ gehört zu den Opern Giuseppe Verdis, um die Theater und Regisseure für gewöhnlich einen Bogen machen. An der Oper Bonn hat sich Roland Schwab der auf Victor Hugo zurückgehenden Verkettung archaischer Leidenschaften angenommen und zeigt, wie man selbst dieses extreme Libretto Francesco Maria Piaves mit Bravour in eine packende und überzeugende Erzählung verwandeln kann.
Schwab bleibt am Stück, er überschreibt nicht und unterlegt keinen Subtext. Er nimmt die Personen in ihrer Hysterie und mit ihren Kolportage-Zügen radikal ernst. Damit gleicht er den Mangel an Psychologie aus. Aber diese schablonierten Wesen haben ihre eigene Wahrheit: Ernani, der alles verloren hat und zum Byron’schen Outcast geworden ist, trägt die Melancholie des Unglücks mit sich, verrät aber im entscheidenden Moment seine Rolle als Rebell gegen die ganze Welt, wenn er einem aberwitzigen Schwur mit unbedingter Konsequenz folgt.
Der eine seiner Widersacher, der hinfällige, in seiner Wut und Zähigkeit aber voll viriler Bösartigkeit agierende Don Ruiz Gomez de Silva, hält ebenso an versteinerten Prinzipien fest: Für das Ideal der Gastfreundschaft ist er bereit, Leben und Besitz zu riskieren, aber in der Rache ist er unerbittlich. Dabei leidet auch er – an der Erniedrigung durch den König und an einem jugendlichen Herzen, das ihm das Alter in der Brust bewahrt hat und das er sich durch die Jahre zu Eis erstarrt wünschen würde. Don Carlos, der in der Oper zu Kaiser Karl V. erwählt wird, ist ein Herrscher außer Rand und Band. Willkürlich erschießt er Menschen, um das Versteck Ernanis zu erfahren. Doch im Bewusstsein seiner Sterblichkeit kippt sein Charakter radikal; er entschließt sich für eine Art Herrschaftsethik, deren Ausfluss am Ende des dritten Akts (überschrieben mit „La Clemenza“) Verzicht und Versöhnung ist.
Schwab zeichnet diese Figuren so überzeugend durch, dass die drei Männer überraschend glaubwürdige Konturen gewinnen. Auch Elvira, die weibliche Hauptrolle des „Ernani“, wächst in einzelnen Momenten über die passive Rolle des Opfers hinaus: Beinahe hätte sie im grandiosen Terzett des letzten Aktes zugestochen und dem am Rand des Grabs stehenden Silva die Rache vereitelt. Doch auch sie unterwirft sich dem ehernen Gesetz von Schwur und Ehre und opfert dafür ihre Existenz. Dass Elvira bloße Funktion der männlichen Aktionen ist, macht Schwab etwa deutlich, wenn er sie bei der erzwungenen Hochzeit mit Silva vollständig von einem weißen Brautschleier überziehen lässt: Die Person ist reduziert auf „Braut“; was unter dem Laken bleibt, ist nur der Schatten ihrer selbst.
Copyright: Oper Bonn
Die Kostüme von Renée Listerdahl spielen in diesem Deutungskonzept eine wichtige Rolle. Die Banditen Ernanis sind in der Introduktion abgerissene Söldnergestalten; die Herren des Bonner Chores und Extrachores erheben sich wie Untote aus liegender Starre und schmettern Verdis Trinkweise mit unbändiger Aggressivität. Don Carlos ist nicht mehr als ein schwarzer Mafioso, ein eleganter, skrupelloser Verbrecher. Elviras prunkende Pracht kennzeichnet sie als Objekt, fast wie ein Ausstellungsstück. Der Frauenchor trägt das Hochzeitskleid wie eine Drohung in den Raum, den Alfred Peter schräg aufgebockt hat: eine Architektur-Bruchstück, das sich aus einem größeren Zusammenhang gerissen hat, mit Wunden, in denen der nackte Beton blutet, mit schmalen Öffnungen, die an ein Gefängnis erinnern, aber auch an die Fassade der Twin Towers. Dunst wabert auch über ein Feld von Totenschädeln im dritten Akt; offene Scheinwerfer schlagen Lichtschneisen in dampfende Dunkelheit. Atmosphäre ist in diesen Bildern groß geschrieben.
Die Gesangspartien stellen hohe Ansprüche, nicht nur an eine durchsetzungsfähige Dramatik oder an ausgeprägte Beweglichkeit. Der Sopranpart bewegt sich auf dem Niveau, das Verdi mit Abigaille, Odabella und Alzira bis zur Lady Macbeth vorgegeben hat. Den unmittelbar aus einem Triller ansetzenden verzierten Sprung auf „Vola, o tempo“ in der Cabaletta von Elviras Auftrittsszene („Tutto sprezzo che d’Ernani …“) haben überhaupt nur Sängerinnen wie Rosa Ponselle und Anita Cerquetti adäquat bewältigt. In Bonn tut sich Yannick-Muriel Noah schwer mit dieser so dramatischen wie koloraturgesättigten Partie. Sie muss ständig anstrengend über ihren Registerwechsel in die Tiefe springen, sie intoniert immer wieder zu tief, weil sie in agilen Tonketten Mühe mit dem Tempo hat, sie hat mittlerweile eine zu schwere Stimme, um Glanz und Geläufigkeit zu garantieren.
Auch bei den männlichen Solisten ist die Herausforderung zu hören, die ihnen Verdi zumutet. Schon dem Tenor der Uraufführung 1844 in Venedig, Carlo Guasco, wurde „Brüllen“ nachgesagt; der Bonner Ernani, George Oniani, ist davon glücklicherweise ein gutes Stück entfernt. Er bringt einen kraftvollen Tenor mit, setzt die Strahlkraft dosiert, aber nicht flexibel genug ein und lässt so – etwa in seiner Auftritts-Cavatina – den Flor des Leides, den wehmütigen Zauber der Melancholie vermissen. Dort, wo entschiedenes Leuchten der Töne gefordert ist, überzeugt sein glanzvoller „squillo“.
Federico Longhis Bariton verfügt über prächtige Fülle und schneidigen Glanz, aber die rauhe Lautstärke erlaubt es nicht, etwa den gedankenverlorenen Ton von „Oh de‘ verd’anni miei“ oder die an Donizetti geschulte Eleganz eines Kavaliers zu treffen. Für die pure pulsierende Leidenschaft des schon auf den „Trovatore“ vorausweisenden Terzetts hat Longhi freilich den nötigen Nachdruck. Mit Pavel Kudinov ist der Silva angemessen besetzt: Der Bass hat nicht den Balsam eines italienischen „basso cantante“, aber er kann zeigen, wie der gebrechliche alte Mann am Stock noch vor innerer Energie bebt.
Das Beethoven Orchester Bonn unter Will Humburg bleibt dem Cabalettenfeuer und der rhythmischen Glut des jungen Verdi nichts schuldig. Humburg hütet sich weise vor Übertreibungen, banalisiert den zupackenden Dreiertakt und die pointierten Figuren der Begleitung nicht, gestaltet melodische Bögen mit feinsinnigen dynamischen Valeurs. Auch er nimmt diese bisweilen krude zupackende, oft aber schon überraschend subtil ausgestaltete Musik ernst und ist damit ein der Regie kongenialer Partner im Orchestergraben. Mit diesem durch und durch überzeugenden Wagnis hat Bonn nach so vielen bemerkenswerten Produktionen in dieser Spielzeit auch die schon seit mehreren Jahren gepflegte Serie seiner Verdi-Entdeckungen erfolgreich weitergeführt.
Werner Häußner