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BIETIGHEIM/ BISSINGEN/ St. Laurentiuskirche: MUSIK ZUR FASTENZEIT, STUTTGART/ Liederhalle 4. SINFONIEKONZERT unter Silvain Cambreling

BIETIGHEIM/ BISSINGEN: MUSIK ZUR FASTENZEIT: MUSIK ZUR FASTENZEIT

Stunde der Kirchenmusik in der St. Laurentiuskirche/BIETIGHEIM-BISSINGEN

Die hauptberufliche Sonderschullehrerin Regina Pierro hat eine reiche Erfahrung als Konzertsängerin – und dies nicht nur im Bietigheimer Raum. Das „Konzert zur Fastenzeit“, bei dem sie von Jürgen Benkö einfühlsam an der Orgel begleitet wurde, besaß jedenfalls akustischen Glanz wegen ihrer strahlklaren Sopranstimme. Mit kontrapunktischen Finessen und facettenreichen gesanglichen Figurationen überraschte die fulminante Wiedergabe der beiden Sätze „Es kostet viel, ein Christ zu sein“ BWV 459 und „Gott lebet noch! Seele, was verzagst du noch?“ BWV 461 aus „Schemellis Gesangbuch“ von Johann Sebastian Bach. Mit ihrem weichen Timbre und ihrer präzisen Intonation konnte Regina Pierro ihre Zuhörer sofort begeistern.

Die ruhig versöhnenden Bilder von der Salbung Jesu standen dann bei Johann Sebastian Bachs Sätzen „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ und „Ich will dir mein Herze schenken“ aus der „Matthäus-Passion“ BWV 244 im Mittelpunkt. Die Da-capo-Form dieser Arien stach hell hervor und tauchte das Kirchenschiff in einen klangfarblichen Zauber. Melodie, Klangfarbe und Ausdruck wuchsen hier eindrucksvoll zusammen. Schönheit und unmittelbare Wirkung ohne magisterliche Strenge faszinierten dann bei Josef Rheinbergers „Wenn alle untreu werden“ sowie „Ich bin des Herrn“ aus „Sechs religiöse Gesänge“ op. 157. Da gelang es Regina Pierro zusammen mit Jürgen Benkö ausgezeichnet, die thematischen Zusammenhänge mit stimmlicher Tragfähigkeit zu betonen.

Gabriel Faures „Pie Jesu“ aus dem „Requiem“ op. 48 gefiel mit starkem impressionistischen Einfühlungsvermögen und sich ständig steigernder dynamischer Intensität. Faszinierende harmonische Vielschichtigkeit prägte die „Missa in simplicitate“ von Jean Langlais, deren Quart- und Quint-Verbindungen nicht nur beim „Kyrie“ und „Gloria“ facettenreich hervorstachen. Bewegend war außerdem „Am Abend“ aus den „Geistlichen Liedern“ op. 137 von Max Reger, und man begriff auch hier, wie groß Regers kontrapunktisches Können war. Die ausschweifende Fantasie des Komponisten mit seinem Hang zum Formlosen kam der nuancenreich deklamierenden Sopranistin Regina Pierro sehr entgegen, sie wurde von Jürgen Benkö in bewegender Weise begleitet. Ein Genuss waren ferner die klanglich kühnen Orgel-Improvisationen von Jürgen Benkö, der darin wirklich ein Meister ist. Chromatisch rauschhafte Passagen wechselten sich dabei mit gewaltig ausufernden Akkordblöcken ab. Insgesamt sind diese Improvisationen aber durchaus formgebunden und melodisch. Anklänge an Jehan Alain oder Jean Langlais kann man heraushören. 

Unterdessen lud das Staatsorchester Stuttgart unter der fulminanten Leitung von Sylvain Cambreling bereits zu seinem 4. Sinfoniekonzert in den gut besuchten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle ein. Zu Beginn erklang Joseph Haydns Sinfonie Nr. 94 in G-Dur „mit dem Paukenschlag“. Ihren Beinamen „Surprise“ („Überraschung“) verdankt sie dem Effekt, den Haydn im zweiten Satz angebracht hat: leise lässt der Meister die Andante-Melodie wiederholen, dann kracht der bewusste Paukenschlag, angeblich um die Hörer zu wecken, die beim Andante gewöhnlich einnicken. Und das ist im Beethovensaal mit dem feinnervigen Staatsorchester Stuttgart auch sehr gut gelungen, denn da wachte wirklich jeder auf. Vor das Vivace assai stellte „Papa Haydn“ als Einleitung ein wunderbares Andante cantabile, dessen Klangsinnlichkeit Maestro Cambreling mit den Musikern genüsslich auskostete. Bei aller Knappheit wirkte die Musik bei dieser Wiedergabe ungemein dicht und beredt in seiner Stimmung des Sich-Lösens aus engenden Fesseln, dann huschte leise das Hauptthema daher. Schwungvolle Kraft machte sich breit. Dementsprechend atemlos war auch das zweite Thema. Das Hauptthema meldete sich in der Durchführung mit funkelnden Eskapaden. Und die kindlich-naive Melodie des Andante besaß hier ungeahnte Intensität. Es handelt sich angeblich um eine Volksweise aus den Sudeten – ein interessantes Thema mit Variationen, dessen Schlichtheit bei dieser konzentrierten Interpretation aber auch überraschend in romantische Zukunftsbereiche der Harmonik wies. In frischer Urwüchsigkeit stampfte das Menuett auf, lenkte aber liebenswürdig in das reizvoll gespielte Trio ein, dessen Geschmeidigkeit sich auf die Nebengedanken des Menuetts berief. Unbeschwert stürmte das Finale Allegro molto mit seinem ungestümen Thema los, dessen Assoziationen zu Haydns D-Dur-Sinfonie Nr. 104 gut herausgearbeitet wurden. Die hervorragende  Geigerin Carolin Widmann aus München interpretierte dann „Still“ der britischen Komponistin Rebecca Saunders aus dem Jahr 2011 für Violine und Orchester. Carolin Widmann betonte die unermüdliche Energie des Geigenparts, der sich frontal gegen die Orchesterwiderstände durchsetzte. Sylvain Cambreling gelang es, zusammen mit dem eruptiv musizierenden Staatsorchester Stuttgart die Solistin gleichsam auf Händen zu tragen. Da spritzten elektrisierende vulkanisch-kontrapunktische Funken immer wieder neu auf, fesselten die Zuhörer ungemein. Und das eindrucksvoll lange „g“ der Violine führte in einen unheimlichen Orchesterakkord voller Staccato-Attacken. Vielfach geteilte Streicher, Akkordeon, Harfe, Gong und Tamtam gipfelten stellenweise in tumultartigen Ausbrüchen, die alle Beteiligten in hellen Aufruhr versetzten. Sylvain Cambreling machte auch die tückischen Passagen dieser komplexen Partitur mit großer Akribie lebendig und die exzessiven Orchestermusiker folgten ihm aufs Wort. In Stretta-Manier raste der Satz daraufhin seinem atemlosen Ende zu. Das war aufregend. Nach der Stille folgte zu Beginn ein dumpfer Schlag der Kontrabässe, ein facettenreiches Basstrommel-Sforzato, das es in sich hatte. Alle Geigen übernahmen die „es“-Bewegung der Solistin – und mit „f „-Akzenten setzte die Trompete die dynamisch reiche Stimmung mit Flatterzungentönen fort. Man kann verstehen, dass die Solistin sich anfänglich vor der Partitur fürchtete. Sie meisterte ihren extrem komplizierten und vielschichtigen Part aber souverän. Übrigens ist die Komponistin Rebecca Saunders selbst Geigerin. Interessant war die Begegnung mit Franz Liszts sinfonischer Dichtung Nr. 8 „Heroide funebre“, die in den Nach-Revolutionsjahren 1849 bis 1857 entstand und bei den gewaltigen Bläser-Passagen deutlich von Hector Berlioz beeinflusst ist. Es gibt hier allerdings keine formal klare Entwicklung, was Sylvain Cambreling als Dirigent aber gekonnt überspielte – und das fulminante  Staatsorchester Stuttgart folgte ihm bei jedem Takt. Neben harten Schlagzeug-Attacken fielen auch die glockenartigen Pendelbewegungen der Streicher auf, die in einen bewegenden Trauermarsch mündeten. Neben Tremolo-Passagen arbeitete das Staatsorchester unter der umsichtigen Leitung von Sylvain Cambreling vor allem de unruhigen chromatischen Effekte heraus, alles erinnerte stark an Liszts „Dante-Sinfonie“. Auch aus der „Marseillaise“ zitiert Liszt eine Passage. Der Klang- und Melodienzauber wurde von harten Staccato-Attacken und wuchtigen harmonischen Ausbrüchen begleitet – Pauken, Glocken, Tamtam, Becken und Große Trommel führten zu  beunruhigendem Aufruhr. Cambreling gelang mit dem konzentriert spielenden Staatsorchester allerdings das Kunststück, nichts plakativ klingen zu lassen. Alles besaß Tiefgang und Reife. Zuletzt folgte noch eine ausgezeichnete Wiedergabe von Maurice Ravels Kultstück „Bolero“, der seit seinem Entstehungsjahr 1928 ein großer Welterfolg ist. Vibrierender Rhythmus, Klang und sinnliche Melodien fügten sich zum rauschhaften Klangkosmos. Die echte spanische Tanzweise nach der Periode von trägen sechzehn Takten mündete in schwelende Leidenschaft und sank dann zurück. Bohrende Monotonie beherrschte den Bolero-Rhythmus, der sich immer exzessiver behauptete. Tiefe Streicher und zwei Tambourins fügten sich zu einer geradezu manisch-magischen Beschwörung orgiastischer Tanzlust, die ihresgleichen suchte. Klug akzentuierte Cambreling den dynamischen Aufbau des Meisterwerks, das sich immer deutlicher steigerte. Die Behandlung des Klanges besaß trickreich-sensationelle Präsenz. Zu dem leisen Rhythmus gesellten sich erst die Flöte und dann die Klarinette – und das markante Fagott stimmte die zweite Periode an. Langsam schwollen die Klänge immer weiter gleichmäßig an, die Melodie wurde bis zu zügellos rasender Leidenschaft aufgepeitscht. Sylvain Cambreling nahm dem Stück aber glücklicherweise die brutale Eintönigkeit, ließ es vielmehr kontrapunktisch äusserst vielschichtig aufblühen. Da rang das Publikum schließlich nach Luft. Die grandiose Sphäre des Triebhaften war es, die diese Wiedergabe vor allem auszeichnete.

Berechtigter Jubel.

 Alexander Walther

 

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