Andreas Guglielmetti, Mattea Cavic. Foto: LTT – Tobias Metz
„Faust – der Tragödie erster Teil“ von Goethe am 27.2.2019 mit dem Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen im Kronenzentrum/BIETIGHEIM BISSINGEN
EIN INTERESSANTER ROLLENTAUSCH
Ganz ungewöhnlich ist in dieser Inszenierung, dass die Handlung im Foyer beginnt. Wie Faust kann auch Mephisto seine ungeheure Lebensgier nicht bezwingen. In der Regie von Christoph Roos (Ausstattung: Peter Scior; Musik: Markus Maria Jansen) besteht die recht schlichte Bühne aus Holzwänden, die sich allerdings immer wieder geheimnisvoll hin- und herbewegen. Aber die metaphysischen und mythologischen Aspekte kommen eindeutig zu kurz. Faust verurteilt sich in der Wette mit Mephisto dann dazu, keinen Augenblick mehr nachzudenken. Er hat viele Bücher gelesen, Geister beschworen – und auch Selbstmordgedanken sind ihm nicht fremd.
Andreas Guglielmetti als alter Faust kann diese Situation vor allem im Anfangsmonolog durchaus plastisch verdeutlichen. Trotz mancher szenischer Schwäche überrascht diese ungewöhnliche Inszenierung dann aber mit einem seltsamen Rollentausch, denn sowohl Mephisto als auch Faust verwandeln sich hier von einer alten in eine junge Gestalt. Die Unzulänglichkeit des eigenen Denkens und die Beschränktheit seiner Mitarbeiter bringen Faust wiederholt zur Verzweiflung, was vor allem Jürgen Herold als junger Faust sehr gut darstellt. Aber auch Mephisto durchläuft plötzlich einen eigenartigen Wandlungsprozess. Jürgen Herold stellt nämlich zunächst facettenreich und durchaus dämonisch den jungen Mephisto dar, während Andreas Guglielmetti daraufhin den alten Mephisto in einer diabolischen Metamorphose verkörpert. Das berühmte „Hexeneinmaleins“ erhält hier ein ganz neues Gewicht, weil sich die einzelnen Figuren in virtuoser Weise aufspalten. Der Teufel verspricht hinterlistig, Faust aus seiner schwierigen Situation zu erlösen – doch dies gelingt nicht. Faust ist sich auf der anderen Seite natürlich sicher, dass dieser seinen Wissensdurst und seine Erlebnissucht ebenfalls nicht befriedigen kann. Beim verhängnisvollen Pakt mit Mephisto bleibt dann vor allem die Liebe zu Margarete auf der Strecke, die von Mattea Cavic ausgesprochen bewegend dargestellt wird. Die heutige pervertierte Erlebnisgesellschaft wird von Christoph Roos in seiner Inszenierung kräftig aufs Korn genommen. Faust sucht krampfhaft einen Religionsersatz, um zu erfahren, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Aus dem Radiogerät erklingen Frank-Sinatra-Melodien und zu weiteren Zerstreuungen einfach nur belanglose Unterhaltungsmusik.
Zuweilen bricht das Bühnenbild auf, die Wände drehen sich in atemloser Geschwindigkeit, das Licht geht aus. Da gibt es dann durchaus eine gespenstische Stimmung. Aufklärung ist dabei auch die Welt des großen Theaters, das in dieser Inszenierung aber nur bruchstückhaft sichtbar wird.
Andreas Guglielmetti, Mattea Cavic. Foto: LTT – Tobias Metz,
Das „Vorspiel auf dem Theater“ findet einfach im Foyer statt, die Zuschauer werden dann gleichsam ins Theater hineingeführt. Der Zuschauer soll hier ganz im Sinne Goethes nicht „verbildet“ sein, sondern seinen eigenen Denkprozess in Gang bringen. Faust sitzt bei dieser Aufführung einfach in einer Kneipe und versucht, seine Verzweiflung über die Unzulänglichkeit des eigenen Denkens in Alkohol zu betäuben. Er wirkt zeitweise manisch-depressiv, was Andreas Guglielmetti gut herausarbeitet. Der „Osterspaziergang“ findet teilweise im Zuschauerraum statt, wird der Auftakt zu Fausts selbstherrlicher Kolonialisierung. Faust erzählt hier von der Schuld, die sein Vater durch Massenmord aufgrund medizinischer Experimente auf sich geladen hat. Mephisto steht in dieser Inszenierung aber nicht in erster Linie für das Böse, sondern für einen wesentlichen Bestandteil von Fausts eigener Existenz. Das ist ein neuartiger Ansatz: „So kann ich nicht mehr weiter leben. Es muss alles ganz anders werden!“ In der grotesken „Hexenküche“ braut ein Dealer eine Droge, die Faust um 30 Jahre verjüngt. Dies ist in dieser Inszenierung der entscheidende Augenblick, wo Faust und Mephisto die Rollen tauschen. Faust erhält in der „Hexenküche“ gleichzeitig noch die Chance zur Umkehr, die dieser aber nicht nützt. So nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Mattea Cavic hat als Margarete große Auftritte. Vor allem gegen Ende wächst sie als verzweifelte Kindsmörderin über sich selbst hinaus: „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr...“ Im Religionsgespräch sucht Margarete Ruhe und Sicherheit, die sie aber nicht finden kann. Damit Faust und Margarete ungestört miteinander ins Bett gehen können, muss die Mutter mit der Überdosis eines Schlafmittels ins Jenseits befördert werden. Faust ersticht auch noch Margaretes heftig aufbegehrenden Bruder Valentin, dem Daniel Holzberg ein markantes Gesicht gibt. Zuletzt kann Margarete (die sich von Faust nicht retten lassen möchte) nur noch nüchtern feststellen: „Heinrich, mir graut vor dir!“
Das Stück endet als negative Utopie, am Schluss gibt es bei dieser Inszenierung bei der heftigen Auseinandersetzung zwischen Faust und Margarete noch starke Szenen. Mephistos Dilettantentheater bricht zwar immer wieder hervor, doch es wird doch zu wenig deutlich, wie er Faust in die Nacht des Hexen- und Satansfestes führt. Manche Bilder bleiben hier einfach zu harmlos und unlebendig. Aber es gibt auch einige Szenen, die in sich stimmig sind. Dazu gehört auch die Szene bei der Kirchenmesse, wo Margarete von bösen Geistern bedrängt wird. In weiteren Rollen gefallen Siegfried Kadow als Direktor, Wagner, Hexe sowie Stimme Böser Geist, Daniel Holzberg als Dichter und Schüler sowie Susanne Weckerle als Lustige Person, Erdgeist, Marthe, Stimme Böser Geist. Was man bei dieser Inszenierung vermisst, sind die für Goethe so wichtigen überirdischen Sphären. Fausts zentrale Versuche, in die Sphären des Makrokosmos, des Erdgeistes und der „reinen Tätigkeit“ einzudringen, bleiben so nur an der Oberfläche. Besser gelingt hier allerdings Fausts Öffnung gegenüber der Welt. Da finden dann auch die einzelnen Figuren eher zusammen.
Alexander Walther