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Beziehungsmuster und Sprachspiele im Gesamtkunstwerk „Der Rosenkavalier“. Von Oswald Panagl

17.06.2018 | Allgemein, Themen Kultur

Oswald Panagl attachiert einen Rosenkavalier-Essay, den sich Brigitte Fassbaender für das Programmheft ihrer Inszenierung im Festspielhaus Baden-Baden von ihm gewünscht hat.

Beziehungsmuster und Sprachspiele im Gesamtkunstwerk

„Der Rosenkavalier“

Bildergebnis für silberne rose

 

  1. „Beieinand für alle Zeit und Ewigkeit!“

Momente und Horizonte emotionaler Biographien

„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“: Dieser Satz zählt schlechthin zu den bekanntesten Opernzitaten, er ist über ein Jahrhundert beinahe zum geflügelten Wort geworden, ja gilt gleichsam als ästhetische Signatur einer Gestalt, eines Werkes, sogar einer Epoche. Die Marschallin, die ihren berühmten Monolog singt, räsoniert darin über die Ambivalenz einer Bewusstseinskategorie, in die jeder Mensch eingebettet ist, der er nicht entrinnen kann, sondern sich fügen muss. Sie ist Begleiterscheinung, vielmehr Grundbedingung des menschlichen Lebens; ihr Verstreichen bei jeglichem Tun und Lassen bleibt zumeist unbemerkt, und so wird man ihrer erst in besinnlichen Momenten, besonderen Befindlichkeiten und an Schnittstellen der Biographie gewahr. Doch die Protagonistin will manchmal in das Rad des Geschehens eingreifen und lässt in der Nacht alle Uhren stehen: Das Geschöpf schwingt sich zum Schöpfer auf, so wie ein Meteorologe, der das Wetter gestalten will, anstatt es bloß zu verkünden.

Der Erfinder dieser markanten Bühnenfigur, in der sich seit jeher viele nachdenkliche Frauen wiederfanden, unterscheidet dabei unausgesprochen nach altgriechischem Muster zwischen kairós, dem erfüllten Augenblick, und chrónos, der Zeitspanne oder dem Lebensabschnitt. Dabei ist die – im doppelten Wortsinn – Betroffene keineswegs eine alternde Dame, und das Ende ihrer Beziehung mit dem jungen Galan bedeutet keine wirkliche Zäsur, vor allem aber über den momentanen Trennungsschmerz hinaus keine nachhaltige Katastrophe. Richard Strauss selbst schreibt bekanntlich selbst zu ihrer Physiognomie: „Die Marschallin muß eine junge schöne Frau von höchstens 32 Jahren sein […] Octavian ist weder der erste noch der letzte Liebhaber der schönen Marschallin, die auch ihren ersten Aktschluß durchaus nicht sentimental als tragischen Abschied fürs Leben spielen darf, sondern immer noch mit wienerischer Grazie und Leichtigkeit, mit einem nassen und einem trockenen Auge.“

Der Aufschlusswert des Zeitbegriffs reicht über diese Szene und das Sujet hinaus. Denn in der Tat prägt dieser Sachverhalt auch die Entstehungsgeschichte und Produktionsästhetik des ganzen Werkes. Der Komponist war nach dem epigonalen „Guntram“ aus dem starken Schlagschatten Richard Wagners getreten, hatte dessen Leitmotivtechnik verfeinert und seine Tonsprache in „Salome“, vor allem aber „Elektra“ zugespitzt und bis an die Grenzen zur Atonalität radikalisiert. Mit dem „Rosenkavalier“ wollte der Musiker eine Tendenzwende einleiten, geradezu einläuten, um damit seinem anderen künstlerischen Hausheiligen Wolfgang Amadé Mozart Reverenz zu erweisen. Der schlichte, fast volksliedhafte Tonfall des Schlussduetts mag dieses Vorhaben bestätigen, doch erweisen und illustrieren zahlreiche Einzelpassagen, ja demonstriert letztlich die ganze Partitur mit ihrer avancierten Kontrapunktik, mit chromatischen Einsprengseln und schillernden Orchesterfarben, dass Strauss das einmal erreichte klangliche Idiom allenfalls modifiziert, aber nicht über Bord wirft. Wenn Komponist und Textdichter ihr neues Vorhaben im Briefwechsel als das „Figaro“-Projekt chiffrieren, so spielen sie auf Merkmale des Plots wie Intrige und Blamage, weiters Liebesgeschichten und Heiratssachen an, ohne sich deshalb in ein rückschrittliches Fahrwasser zu verirren.

Zeit als Ordnungsprinzip, besonders in der Lesart des gesuchten Anachronismus, kennzeichnet auch die Dramaturgie des Stücks und seine Regieanweisungen. Hofmannsthal situiert die Handlung „im ersten Jahrzehnt Maria Theresias“, worauf sich zudem die Namensform Marie Theres der Fürstin Werdenberg bezieht. Doch zahlreiche szenische Einzelheiten deuten auf eine spätere Epoche, sogar auf die Entstehungszeit des Librettos, wie auch der Komponist mit der Allgegenwart des Walzers einen bewussten musikalischen Stilbruch begeht. Überhaupt sind Textbuch und Partitur nicht zuletzt in der Nebenbedeutung des Wortes ein ‚Kunst-Werk‘, ein Artefakt also, in dem die Realität zwar nicht ausgeblendet ist, aber vielfach gebrochen, gefiltert, getönt und verschnitten wird. Bisweilen wirkt das Ergebnis dieses schillernden Verfahrens geradezu paradox: Scheinbar erfundene Namen wie Rofrano oder Valzacchi hat der Dichter auf Reisen notiert oder von Firmenschildern abgelesen. Ein authentisch wirkender Brauch wie die Überreichung der silbernen Rose ist hingegen, wie der Autor betont, reine Erfindung. Sogar in der Rezeptionsschneise der literarischen Vorlagen haben sich die beiden Schöpfer manches kreativ anverwandelt. So erinnert die Dialektik von Tag und Nacht oder die Verschmelzung der Identitäten („das Zudirwollwen, das Dichumklammern, das bin ich, das will zu dir, aber das Ich vergeht in dem Du“) in der Anfangsszene nur allzu deutlich an den Liebesdiskurs im zweiten Aufzug von „Tristan und Isolde“. Und wenn die Duenna Marianne Leitmetzerin im zweiten Akt aufgeregt vom Eintreffen des Brautwerbers berichtet („aus ’m Seminari schaun die Hochwürden von die Balkoner. Ein alter Mann sitzt oben auf der Latern‘.“), lässt der Librettist durchblicken, dass er seinen Homer kennt und das Genre der Mauerschau schöpferisch verinnerlicht hat.

Auch in das Profil der Personen haben die beiden Autoren quasi wohlüberlegte Spontaneität investiert. Sie geben ihre Figuren nicht voreilig und wohlfeil preis, lassen vielmehr Konturen verschwimmen und legen gemeinsame Züge frei. So schreibt Hofmannsthal programmatisch: „Die Musik ist unendlich liebevoll und verbindet alles: ihr ist der Ochs nicht abscheulich – sie spürt, was hinter ihm ist, und sein Faunsgesicht und das Knabengesicht des Rofrano sind ihr nur wechselweise vorgebundene Masken, aus denen das gleiche Auge blickt.“ Am Beispiel des deftigen Barons, für den Dichter „ein rusticaler, in Falstaff steckengebliebener kleinadliger Don Juan“, aber wird klar, wie sich das Typenarsenal der Operngeschichte in diesem Stück spiegelt. Selbst im sprachlichen Detail und seiner musikalischen Umsetzung offenbart sich die subtile Ausleuchtung der Charaktere und Situationen. So lohnt etwa die genaue Beobachtung, wann und in welcher Stimmung die Marschallin ihren Liebhaber mit Quinquin, Octavian oder Rofrano anredet, weiters wie die Protagonisten vom vertrauten Du zum förmlichen Er oder Sie übergehen, was im zweiten Teil dieses Essays näher ausgeführt wird.

Die friktionsreiche Zusammenarbeit zwischen Dichter und Komponist erhellt aus ihrer Korrespondenz „in der Werkstatt“. Strauss verlangte von „seinem Daponte“ nicht selten drastischere, ja derbere Szenen und spornte seinen Pegasus zur Eile an. Im Fall des Schlussduetts hatte er sogar schon vorweg eine eingängige Melodie gefunden, zu der sein Partner gefälligst die passenden Worte nachliefern sollte. Dieser wieder beschwerte sich sogar immer wieder, dass der laute „Musikpanzer“ die Nuancen seiner feingesponnenen Dialoge zudeckte. Er wies der Tonsprache aber immerhin die semantischen Leerstellen im Miteinander der Figuren zu: „Sie gehören alle zueinander, und was das Beste ist, liegt zwischen ihnen; es ist augenblicklich und ewig, und hier ist Raum für Musik.“ Sein „Ungeschriebenes Nachwort zum Rosenkavalier“ jedenfalls stellt das erreichte Resultat vor und über die Schlacken seiner Genese: „Ein Werk ist ein Ganzes und auch zweier Menschen Werk kann ein Ganzes werden.“

Ich kehre am Ende zur Thematik der Zeit zurück und verweise auf das kurze Schlussduett, in dem die besorgte Reflexion des Monologs der Marschallin überwunden und – in der notorisch doppelten Lesart des Wortes – aufgehoben ist: „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein, daß wir zwei beieinander sein, beieinand für alle Zeit und Ewigkeit!“

 

  1. „Marie Theres, wie gut Sie ist!“

Zu den Anredeformen im „Rosenkavalier“

 

  1. Zwischen Imagination und Realität

            In seinem gern zitierten Geleitwort zum „Rosenkavalier“ bespricht Hugo von Hofmannsthal auch die Zielvorstellung, die ihn bei der Erfindung des Ambientes und der Gestaltung der Charaktere geleitet hat: „Dahinter war der geheime Wunsch, ein halb imaginäres, halb reales Ganzes entstehen zu lassen, dies Wien von 1740, eine ganze Stadt mit ihren Ständen, die sich gegeneinander abheben und miteinander mischen, mit ihrem Zeremoniell, ihrer sozialen Stufung, ihrer Sprechweise oder vielmehr ihrer nach den Ständen gestuften Sprechweisen, mit der geahnten Nähe des großen Hofes über dem allen, mit der immer gefühlten Nähe des Volkselementes.“ Und wenig später kennzeichnet der Dichter das besondere Idiom seines Librettos als „eine Sprache, durch welche jede Person zugleich sich selbst und ihre soziale Stufe malt, eine Sprache, welche in dem Mund aller dieser Figuren die gleiche ist […] und doch im Mund jeder Figur eine andere […]“. Dieses komplexe Sprachthema in der Fülle seiner Variationen, dieses farbenreiche verbale Spektrum ließe sich an verschiedenen Merkmalen festmachen und illustrieren: an leibeigenen Redewendungen, an Fremdwörtern oder zitierten Einsprengseln aus dem Italienischen und Französischen, an Grußformeln, aber auch am Tonfall im Spannungsfeld von Hochsprache und Dialekt. Wenn ich in der Folge zwei andere sprachliche Eigenschaften des „Rosenkavalier“-Textes etwas näher betrachte, nämlich den Wortlaut und die grammatischen Formen der Anreden, so folge ich damit einer vorgegebenen Spur (Andreas Razumovsky, William Mann) und kann mich auf den Dichter selbst berufen. Denn für ihn ist die Beziehung, die Verbindung zwischen den handelnden Personen wesentlich. Sie erscheint ihm – in Worte gefasst oder unausgesprochen geblieben – wichtiger als alle Spielarten des Redens und Agierens. Und fraglos gehören die Eröffnung eines Gesprächs, die Bezugnahme auf das Gegenüber sowie der Grad von Nähe oder Distanz zu den entscheidenden Momenten im zwischenmenschlichen Kontakt.

 

  1. Graf Rofrano oder Quin-quin?

            Von Octavian, dem jungen Grafen Rofrano, erfahren wir aus dem Munde Sophies nach der Rosenüberreichung das vollständige Namenregister: Octavian Maria Ehrenreich Bonaventura Fernand Hyazinth. Dazu kommt noch der Kose- und Spitzname Quin-quin (von Hofmannsthal entlehnt und nicht erfunden!): „So nennen ihn halt seine guten Freund und schöne Damen, denk ich mir, mit denen er recht gut ist.“ Und in der Tat spricht die Marschallin am Morgen nach der Liebesnacht ihren jungen Freund mehrmals auf diese zärtliche Weise an, wenn sie ihn nicht überhaupt mein Bub oder Herr Schatz nennt. Wenn sie nach dem Lever auf ernstere Gedanken kommt und über das Leben räsoniert, vermeidet sie diese Anreden, gebraucht aber immerhin noch die Intimform Taverl. In der Phase der Trennung und Entfremdung der beiden im dritten Akt stellt sich auch in der Anrede kühler Abstand ein: Octavian wird für die Marschallin zu mon cousin und Rofrano. Umgekehrt apostrophiert der junge Liebhaber die reife Frau in der Liebesszene als mein Schatz, Bichette (im Gegenzug zu Quin-quin), aber auch als Theres oder Marie Theres. Diese beiden Namensformen behält Octavian auch im Schlussbild bei, als sinnfälligen Ausdruck seines schweren Abschieds von der geliebten Frau. Eine andere Intimvariante, Resi, gebraucht nur die Marschallin selbst, wenn sie resignativ über den Lauf der Welt nachdenkt („die kleine Resi – die alte Fürstin Resi„). Für alle anderen Figuren einschließlich Sophie und Ochs ist die Marschallin so sehr Respektsperson, dass sie nur mit einem Titel angesprochen wird (Euer Gnaden, Fürstliche Gnaden).

            Ochs auf Lerchenau firmiert für das Personal in beiden Häusern, aber auch für das Intrigantenpaar als Euer Gnaden, Herr Baron, Ihre Gnade usw. Die Marschallin zeichnet ihn als mein lieber Vetter und Euer Liebden aus, dem sich im zweiten Akt auch Octavian anschließt, der seinerseits von Ochs respektvoll mit Cousin Rofrano oder Vetter angesprochen wird. Das kostümierte Mariandel tituliert den Schwerenöter im fingierten Brief als Herr Kavalier. Die volle Namensform des Barons (Leupold Anton von Lerchenau) erfahren wir nur, wenn die als seine Ehefrau verkleidete Annina im Gasthaus auf ihn Beschlag legt und mit diesem Wortlaut ihren Anspruch gleichsam autorisiert. Besonders krass ist das Gefälle im Umgang des Ochs mit seinem Schwiegervater in spe. Der Baron nennt ihn salopp-herablassend mit seinem Familiennamen Faninal und lässt sich selbst quasi gnadenhalber als Herr Schwiegersohn anreden. Als dem um Ruf und Ansehen geprellten Neureichen im dritten Akt der Kragen platzt, hat er für den Verursacher seines verwirkten Prestiges freilich nur noch ein verächtliches „Er Filou“ übrig. Sophie, die junge Braut, wird von Octavian entweder bei diesem Namen oder im höflichen Konversationston ma cousine genannt. Als Ochs sie nach der Intimität mit Octavian zur Rede stellt, versieht er sie bloß mit der bagatellisierenden Anrede Mamsell. Aber auch die Duenna Marianne Leitmetzerin lässt Kritik an ihrem Schützling erkennen, wenn sie das anspruchsvolle, über die Manieren ihres Bräutigams empörte Mädchen mit Jungfer Hochmut anspricht.

            In der behutsamen Nähe des Schlussduetts fehlt jegliche Anrede. Das zart umgreifende wir zwei, das Sophie und Octavian sprachlich einschließt, ist sich der neuen Gemeinsamkeit so gewiss, dass alle kommunikativen Signale wegbleiben dürfen.

 

  1. Du und Er, Ihr und Sie

            Ein Blick auf die Sprachgeschichte des Deutschen lässt als grammatische Ausdrucksformen der Anrede vier Möglichkeiten erkennen. Das vertraulich-intime Du, das Abstand schaffende oder despektierliche Er/Sie sowie der ehrerbietig-höfliche Plural in der zweiten (Ihr) oder dritten Person (Sie), der letztlich auf den Umgang mit der Obrigkeit bzw. den Verkehr von Majestäten untereinander zurückgeht. Von dieser Vielzahl der formalen Möglichkeiten hat die Gegenwartssprache nur noch die Alternative des trauten Du und des distanzierten Sie bewahrt. Die vorgestellte Welt von Hofmannsthals Libretto vermittelt uns gleichsam ein Zwischenstadium dieser Varianten. Das ‚Ihrzen‘, also die zweite Person Plural als Respektform für eine Einzelperson, spielt keine Rolle, während das ‚Duzen‘, ‚Erzen‘ und ‚Siezen‘ in typischer Verteilung auftritt.

            Als Standardform zwischen annähernd gleichgestellten Persönlichkeiten dient die dritte Person Singular, also das Er und Sie. Es ist dies der wechselseitige Umgangston zwischen der Marschallin und Ochs, zwischen diesem und Sophie sowie Faninal, der seinerseits mit Octavian auf dieser Ebene umgeht. Selbst zwischen Vater und Tochter herrscht diese Anrede vor.

            Das Du ist die selbstverständliche Kommunikationsform der „Domestikentür“ und der Lieferantenstiege, mitunter auch im Befehlston der Obrigkeit an das Gesinde („Laufts dem Herrn Grafen nach und bittets ihn noch auf ein Wort herauf.“). Die Dienerschaft bedient sich untereinander dieser zwanglosen Form, das kostümierte Mariandel lädt mit einem deftigen „Derfts eina gehn!“ zum Lever, und auch Annina wirbt mit einem wiederholten „verstehts?“ beim Faninalschen Personal um Interesse für ihre Entdeckung von Sophie und Octavian in flagranti. Dass Marianne Leitmetzerin – und nur sie – Sophie stets duzt, ist ein Zeichen besonderer Nähe zu dem Mädchen, das sie offenbar fast wie eine Mutter durchs Leben geleitet hat.

            Das Siezen ist im Libretto des „Rosenkavalier“ der Anrede höhergestellter Personen vorbehalten und setzt damit den alten Majestätsplural fort: So redet der Haushofmeister seinen Herrn, der Wirt den Baron, aber auch Mariandel ihren Galan an („Sie ham mir schon gefallen“ im Brief, „O Sie schlimmer Herr“ im Wirtshaus). Wenn dieser Plural bisweilen auch unter Standespersonen – z.B. zwischen der Marschallin und Ochs – Verwendung findet, so sind dafür rein formale Gründe verantwortlich: Die Umschreibung Euer Gnaden oder Euer Liebden, die übrigens auf ein altes ‚Ihrzen‘ zurückgeht, lässt gar keine andere sprachliche Wahl.

            Von besonderem Interesse, da als poetisches Mittel auch dramaturgisch genützt, sind jene Szenen, in denen sich Anrede und Umgangston plötzlich ändern. Hinter der Variation steht jedenfalls stets eine künstlerische Absicht, die veränderte Form reflektiert einen anderen Inhalt.

            Wenn Ochs im Hause des Faninal seinen an Jahren jüngeren, aber höhergestellten Brautwerber Octavian plötzlich duzt, so hat dies entweder den Anstrich plumper Vertraulichkeit („Hab nichts dawider, wenn Du[1] ihr möchtest Augerln machen, Vetter“) oder an späterer Stelle von verächtlicher Überlegenheit („Wart, wenn ich Dich erwisch“), in die auch der Anhang des Barons einfällt.

            Ein anderer sukzessiver Übergang von der dritten zur zweiten Person charakterisiert die spontane Sympathie zwischen Sophie und Octavian. Bei der Überreichung der silbernen Rose und in der anschließenden Konversation wird die Etikette noch strikt eingehalten. Als Sophie den jungen Kavalier um Hilfe gegen ihren ungehobelten Bräutigam bittet, behält sie sprachlich Abstand, während Octavian spontan und unvermittelt in das Du übergeht („Mit Ihren Augen voller Tränen kommt Sie zu mir… Mir so selig, so eigen, daß ich Dich halten darf … Spürst Du’s, so wie ich?“). Nach der vorübergehenden Trennung der beiden und durch die befremdlichen Vorgänge im Wiener Vorstadtbeisel des dritten Aktes hält bei der Wiederbegegnung der beiden ‚vor Publikum‘ Octavian zunächst die frühere Distanz ein („Eh bien, hat Sie kein freundlich Wort für mich?“). Selbst das Liebesgeständnis („Ich hab Sie übermäßig lieb“) verbleibt noch in der Konvention, ehe sich im Terzett die schon errungene Nähe wieder einstellt („Dich hab ich lieb.“). Das abschließende Duett lässt endlich beide Partner der neuen Verbindung einhellig zum Du finden: „Spür nur Dich allein …“.

 

            Den Weg in die andere Richtung geht die Beziehung Octavians zur Marschallin. Hier herrscht auf dem Höhepunkt des Einverständnisses am Beginn der Oper das „Du“ und wird eher kokett gelegentlich ausgesetzt: „Er Katzenkopf, Er unvorsichtiger!… Hat Er keine besseren Gepflogenheiten?“ Als die Marschallin nach dem Lever in wehmütige Gedanken verfällt und Octavians Zärtlichkeiten zurückweist, wechselt mit der labilen Stimmung auch die grammatische Person („Du weißt ja, wie ich bin“ … „Sei Er doch gut, Quin-quin.“) Schließlich greift auch Octavian diesen formalen Umgangston auf und die beiden beenden den Dialog im konventionellen Abstand („Sei Er jetzt gut und folg Er mir.“ – „Wie Sie befiehlt, Bichette.“). Bei ihrem unverhofften Auftritt im dritten Akt sieht die Marschallin ihre Befürchtungen für die Zukunft bereits erfüllt: Sophie und Octavian sind auf dem Weg, ein Paar zu werden. Zwischen der reifen Frau und ihrem jungen Liebhaber stellt sich wieder die gesellschaftlich gebotene Redeweise ein. Die Marschallin wählt sogar den Familiennamen, um Octavian ihre Haltung zu bedeuten („Find Ihn ein bißl empressiert, Rofrano.“) Aber auch dieser kann selbst im warmen Tonfall des Dankes nicht mehr zum trauten Du zurückfinden: „Marie Theres, wie gut Sie ist!“ Beide haben es verstanden und angenommen, „wenn eine Sach ein End hat.“

[1] In den Textausgaben werden die Anredeformen Sie bzw. Er meist groß geschrieben, das Du hingegen klein. Im Sinne einer Vereinheitlichung bzw. um diese Pronomina hervorzuheben, habe ich mich in allen Fällen für eine Großschreibung entschieden.

 

 

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