BERLIN : Wolfgang Amadeus Mozart „DON GIOVANNI“ Komische Oper 13.4.2013
Foto: Monika Rittershaus
Väterliche Strenge, grenzenloser Hedonismus und der lächerliche Tod als ironisch-brutales dramma giocoso à la QuentinTarantino. Peter Konwitschny
gibt mit seiner faszinierenden Deutung, ja Dekonstruktion des Don Giovanni einen tiefen Einblick in das zwischen moralisch geprägter Selbstkasteiung und Libertinage schwankende Deutschland (Berlin?) von heute. Die musikalische Seite der Aufführung ist ein mächtiger Laserstrahl hin zum jährlichen Mozart Wonnemonat Mai an der schönen Komischen Oper Berlin.
Nichts für Puristen. Da gibt es ein stummes Vorspiel, in dem der kleine Mozart beim Klavierüben vom Vater geschunden wird. Das Finale des 1. Aktes ist eine ausschweifende Orgie mit jeder Menge an Partnertausch. In der Arie des Ottavio im 2. Akt ist zur Halbzeit Schluss, ein Brief Mozarts wird zitiert, dann geht es weiter. Das Schlusssextett verendet vokal wie die Abschiedssymphonie von Haydn. Angesichts des kastrierten, verkrüppelten Don Giovanni im Lehnstuhl geht selbst den selbsternannten Rächern von Frustes Gnaden die Courage aus, über das (eigene?) Böse jubelnd zu singen. Dazwischen wird herum geschossen, schon tot Geglaubte stehen wieder auf, um ihre Arien (weiter) zu singen bzw. in wechselnden erotischen Kombinationen ihrer durch Giovanni angestoßenen sexuellen Verwirrung Herr oder Frau zu werden. Ein großes Tableau der Geometrie der Liebe. Pasolini hätte seine Freude daran gehabt. Also trotz aller vordergründigen Reinheitsgebote und Regietheater-Aversionen: Wer Don Giovanni als kluges Musiktheater sehen will, ist bei Konwitschny bestens aufgehoben. Für mich ist dieser Don Giovanni trotz Chereau in Salzburg oder Haneke in Paris die packendste musikdramatische
Deutung des abgründig-witzigen Meisterwerks der letzten Jahrzehnte.
Zum Gelingen hilft auch die an der Komischen Oper Berlin gepflegte deutsche Sprache. Die Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze ist meisterlich. Freche Wortgefechte, die ganze Absurdität an hohlen Bekenntnissen und echtem Fühlen hängen ganz eng vom Wort ab. Die raschen Wechsel in Stimmung und Aktion, das ganze Qui pro Quo, nichts entgeht dem (sehr jungen) Publikum, das auch eine Lektion hervorragenden Mozart Musizierens erhält. Dirigent Uwe Sandner animiert in beinahe Toscanini-Manier das bestens disponierte Orchester der Komischen Oper zum idealen und fordernden Partner des auf der Bühne versammelten exzellenten Ensembles. Bei so viel Spannung nehme ich ein paar Wackelkontakte zu den Vokalsolisten gerne in Kauf.
Die größte Anerkennung unter den Sängern gebührt dem Don Giovanni des Günter Papendell. Sexy und lustvoll geht dieser moderne Verführer und Partymensch unbeirrbar seinen Weg. Viel flüchtiges Glück, aber auch viel Leid löst er aus. Stimmlich ist er ein echter basso cantante, die Champagnerarie gelingt ihm sternenhell als Mozarts uneingeschränkt lebensbejahende Hymne. So spannend kann Mozart sein, wenn die Figuren bei höchster musikalischer Präzision auch als Typen stimmen. Wer (im Publikum) wollte nicht von so einem knackigen lasziven Tier, einem männlichen Pendant der Lulu, erobert werden?
Umgeben ist dieser Don Giovanni aber nicht von Opfern, sondern von vor allzu gestrengem gesellschaftlichem Zwang in die Lust und Freiheit Entfliehende. Sie alle kreisen nicht nur wie Trabanten um die dunkle Sonne Giovanni, sondern mindestens ebenso um ihr eigenes kleines egoistisches Universum. Der durch einen sexuellen Schock ausgelöste Erosionsprozess macht aus ihnen zutiefst Verunsicherte und Suchende. Ein Abbild der bürgerlichen Welt, die letztlich Ausschweifung als gegenpolaren Stabilisator braucht. Aber auch nachdem die Triebe zu ihrem Recht gekommen sind, gibt dieses sogenannte Establishment brutal zu verstehen, wann das Spiel zu Ende ist, um wieder in den geschützten Hafen rigider Sicherheit und einfacher moralischer Regeln abzutauchen. Ein Abbild unserer jetzigen oberflächlichen Wochenende-Clubbingkultur auf dem europäischen Krisenvulkan. Exemplarisch wie es der Donna Anna der Erika Roos gelingt, verständlich zu machen, was da so alles hinter den transparenten blauen Wänden im Drama Angedeuteten (Bühnenbild Jörg Koßdorff) konkret geschieht. Ihre große Arie im 2. Akt habe ich noch nie so obertonreich und technisch virtuos gesungen gehört. Eine ganz große Leistung. Ihr Verlobter Don Ottavio ist feige und verklemmt. Adrian Strooper singt klangschön und stilistisch einwandfrei. Die Gebrochenheit seines Charakters und seine unendliche Angst und letztlich Unvermögen vor den gewaltigen Sehnsüchten der Anna werden ihn nie zu einem idealen Ehegatten machen. Das Ehe-Drama ist vorprogrammiert, falls Anna nicht nach der am Schluss der Oper ausbedungenen
einjährigen Überlegungsfrist einen anderen nimmt. Donna Elvira hingegen pfeift auf alle Klischees. Nichts kann sie aufhalten in ihrem magnetischen
Hingezogensein zu Don Giovanni. Caroline Melzer gelingt ein facettenreiches Porträt dieser Giovanni in ihrer Kompromisslosigkeit am Nächsten kommenden Figur. Leider gilt es einige Abstriche in der klanglichen Qualität der tapferen Sängerin zu machen. Natürlich hat auch ihr Verhalten nicht viel mit echter Liebe, sondern eher mit sexueller Hörigkeit zu tun. Sie ist es, die am Ende die Kastration ihres Helden vollenden wird. Ein echter Sieg sieht anders aus….
Wenn es um Erotik, sexuelle Anziehung und Leidenschaft geht, lösen sich Standesgrenzen rasch auf. Frauen und Männer gleich welcher Herkunft finden sich im selben unsteten Reigen, derselben Befangenheit. Die Regeln sind für alle gleich, besonders wenn Jugendkult und genormte Attraktion ins Spiel kommen. In einer Welt, wo Zentimeter (bei Hüften, Busen, Bizeps oder Penisgröße) zählen, gelingt gesellschaftlicher opportunistischer Aufstieg manchmal auch über solche Attribute. Zerlina zeigt uns, wie man sich jedoch irren kann, wenn man einem Heiratsschwindler auf den Leim geht. Niemand kann es Giovanni verdenken, dass er nach den „Zimtzicken“ Anna und Elvira einen unbeschwerten Vogel Jugend in seine Hände locken will. Stimmlich bleibt bei der quirligen Alma Sadé kein Wunsch offen. Sie ist eine der Susanna im Figaro ähnliche starke Person der Sonderklasse. Ihr Leporello (Philipp Meierhofer) gibt auch vokal den behäbigen Unterschichtler, der schwarze Müllbehälter ist sein nicht gerade lockendes Markenzeichen.
Die Klammer jeder Don Giovanni-Aufführung ist Giovannis Diener und Faktotum Leporello. Stefan Sevenich ist der erklärte Liebling des Publikums. Ein letztlich gescheiterter Revolutionär. Das Abstreifen der sozialen Abhängigkeit mag gelingen, wo bleibt man aber mit seinen Gefühlen, seiner Identität? Das Teuflische an Giovanni-Typen ist ja nicht ihr Charakter per se, sondern das sich Verfangen im Spinnennetz der eigenen übermächtigen Sehnsuchtsspiegelungen. Und so entkommt auch unser volkstümliches alter Ego der Macht nicht seiner persönlichen Strafe. Emanzipation ist ein Reifeprozess, kein leeres Statement.
Bewegend, wie Don Giovanni am Schluss in seinem Fauteuil lehnt, entmannt und doch noch immer schön. Er hat gelebt ohne Grenzen, üppig und unbekümmert, so wie die Kirschenbäume im Frühling blühen. Die ihn Umgebenden ergeben sich der Leere ihrer dummen Rache. Die saure Moral fällt letztlich nur auf sie selbst zurück. Der Regie gelingt ein eindrückliches Tableau: Anna irrt mit Haifischgrinsen und gezückter Kamera als Touristin ihres
verlorenen Planeten Seele durchs Bild. Sie und die anderen sind von Giovannis tragikomischen Schicksalspartnern zu grauen Statisten verkümmert. Aber keine Angst: Der nächste Don Giovanni kommt bestimmt. Und sei es im eigenen Kopf. So banal ist die Welt, in der auch wir heute leben. Wer auf wen warum hereinfällt, tja, das ist schon so eine Geschichte.
Dr. Ingobert Waltenberger