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BERLIN/Deutsches Theater: Inge Keller als TILLA

09.11.2012 | KRITIKEN, Theater

Berlin, Deutsches Theater: Inge Keller als „TILLA“,08.11.2012


Deutsches Theater, Inge Keller und Bernd Stempel als Tilla und Paul, Foto: Arno Declair

Manchmal gibt es Momente oder Darbietungen, da lässt die Kritikerin den Kugelschreiber sinken und kann nur noch schauen und staunen. Dann hängen die Augen an einem Gesicht und kommen nicht mehr los. An diesem Abend in den Kammerspielen des Deutschen Theaters ist es das noch immer schöne Gesicht der großartigen Schauspielerin Inge Keller, die im nächsten Jahr 90 wird.

Sie lässt das Leben ihrer berühmten Kollegin Tilla Durieux Revue passieren, die 1971 mit 91 Jahren starb und 1970 zum Ehrenmitglied des Deutschen Theaters Berlin ernannt wurde. Inge Keller, die bei der Premiere des Stücks am 2. November ihr 70-jähriges Bühnenjubiläum feiern konnte, wurde diese Ehre schon im Jahr 2000 zuteil. Nun gibt sie die Tilla, und mitunter stellt sich die Frage, ob sie gerade über die Höhen und Tiefen im Leben ihrer großen Kollegin laut nachdenkt oder über die in ihrem eigenen.

Aufrecht sitzt die zarte Frau auf der fast leeren Bühne in einem Sessel (Bühne und Kostüme: Hans-Jürgen Nikulka). Sie plaudert vor sich hin, gedankenverloren und doch hundertprozentig präsent. Ein Zucken ihrer Mundwinkel und ihrer Augenbrauen, ein plötzliches Aufblicken oder das Senken der Lider sagen mehr als tausend Worte oder Gesten. Gerade wurde Tilla Durieux – so beginnt das Stück – zum Ehrenmitglied des Deutschen Theaters ernannt. Nun ist die Feier vorbei, alle Gäste sind weg, und sie ist allein.

Mit dunkler, klarer Stimme ironisiert sie diese Feier und all’ die Orden, die sie erhalten hat, aber auch die Lasten des Alters, ohne wehleidig oder rührselig zu werden. Einen Seitenhieb auf ihre jungen Kolleginnen erlaubt sie sich ebenfalls: „Früher musste man singen können, um Schauspielerin zu werden, heute muss man nicht sprechen können,“ spöttelt sie und hat sofort den Beifall des Publikums auf ihrer Seite. Ja, sie kann noch singen, wie wir später hören, leise, etwas brüchig, aber ohne jeden falschen Ton.

Ganz allein ist sie jedoch nicht. Umsorgt wird sie von Bernd Stempel. Der heißt hier Paul, wie ihr zweiter Mann, der seit 40 Jahren tot ist. Im eleganten Morgenrock serviert er ihr „etwas Richtiges zum Trinken“, ein Glas Champagner und dazu ihre Augentropfen. Ein Gag, wie sie mit dem Tröpfeln zurechtzukommen versucht.

Das Stück, zum größten Teil eine Lesung, hat Christoph Hein weitgehend aus der Biographie von Tilla Durieux entwickelt. Die Regie bei dieser Uraufführung liegt in den Händen von  Gabriele Heinz. Sie hält sich angenehm zurück und vertraut richtigerweise auf den Charme und die Ausstrahlung Inge Kellers.

Thema ist vor allem Tillas zweite stürmische Ehe mit dem kunstbesessenen Verleger Paul Cassirer, der Anfang des 20. Jahrhunderts die später berühmten Literaten und Maler entdeckte, förderte und damit gutes Geld verdiente. Als sich Tilla und Paul zum ersten Mal begegnen, schlägt bei beiden der Blitz ein. Inge Keller glaubt man das sofort. Rund 20 Minuten gestaltet sie den Text auswendig, um ihn dann am Tisch sitzend zu lesen.

Sie holt die verrückte Liebe zwischen Tilla und Paul ebenso in die Gegenwart wie den Druck, den Paul während der Ehe auf sie ausübt. Auch die Häme von Seiten seiner Familie und der Presse kommen zur Sprache. Ein Mann aus guter Gesellschaft heiratet ausgerechnet eine Schauspielerin! Inge Keller spricht dieses „Schimpfwort“ mit entsprechender Betonung, kann sich aber, altersweise geworden, darüber nur noch amüsieren. Tilla Durieux war ja ein Star, und Inge Keller ist es ebenso.

Das Verhältnis der beiden ungleichen Partner wird kompliziert. Paul liebt Tilla, doch sie muss widerspruchslos parieren. Er ist eifersüchtig, peinigt sie mit Wutausbrüchen und Verächtlichkeiten, kann aber nicht von ihr lassen. Nach 20 Jahren hält es Tilla nicht mehr aus und reicht die Scheidung ein.

Jedes Geschenk fordert nun Paul von ihr zurück, schaut sie vor dem Unterschreiben der Scheidungsurkunde unverwandt an. Er steht auf, geht aus dem Amtszimmer und erschießt sich. „Nun bleibst Du auf immer meine Frau,“ so oder ähnlich sind seine letzten Worte. Für seine Familie und die Öffentlichkeit ist natürlich Tilla an allem Schuld. Kübelweise wird, so sagt sie, unflätige Kritik über sie ausgegossen.

Ihr dritter „lieber Mann“ Ludwig Katzenellenbogen ist Jude. Beide fliehen während der Nazi-Zeit über Prag bis nach Kroatien. Er wird erwischt und in Sachsenhausen ermordet. Sie überlebt im Exil als Schneiderin für ein Puppentheater, strickt Pulswärmer und züchtet Kaninchen. Erst 1952 kehrt sie nach Deutschland zurück. Auf die Frage „warum so spät“ hat Tilla Durieux keine Antwort gegeben. Auch Inge Keller verweigert sie. In ihrem Pass steht als Beruf Schneiderin, doch sie wird wieder Schauspielerin und erneut ein Star.

Als Wiedergänger kommt Paul in Gestalt von Bernd Stempel flott gekleidet noch einmal auf die Bühne. Er ist immer noch junge 54 wie bei seinem Suizid, sie inzwischen eine alte Frau. Beide lieben sich noch immer, doch anstatt ihre zur Versöhnung dargebotenen Hand zu ergreifen, sind seine Gedanken schon wieder bei den von ihm entdeckten Künstlern.

Inge Keller lächelt wehmütig, singt nun mit ihrem Betreuer Paul II leise die Verse: „Ich habe Heimweh und weiß nicht wonach, vielleicht nach einem glücklicheren Leben, nach jenem Land, von dem der Engel sprach, Heimweh nach einer Zeit, die’s nie gegeben.“ (Liedkomposition Uwe Hilprecht)

Beim Schlussapplaus muss Stempel sie stützen, alleine gehen kann sie nicht mehr. Liebevoll und dankbar schaut sie den Kollegen an. Der ist auch schon mehr als 20 Jahre am Deutschen Theater.

Die Konzentration über 1 ½ pausenlose Stunden hat sie sichtlich angestrengt, doch sie lächelt glücklich und wünscht uns allen „noch einen schönen Abend“. Diese Leistung und dieses Lächeln, vom Publikum mit heftigen Beifall und stehenden Ovationen quittiert, werden unvergesslich bleiben. Niemand sollte es verpassen. Ursula Wiegand

Weitere Termine: 18. November, 5., 9. 20. und 26. Dezember (teilweise ausverkauft, Restkarten an der Abendkasse)

 

 

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