Musiktheater-Experiment in der Werkstatt der Staatsoper Berlin: „Lehrstück“ von Paul Hindemith (Vorstellung: 16. 6. 2012)
Als Flugkapitän agierte der in den 1950er Jahren berühmt gewordene Wagner-Tenor Reiner Goldberg (Foto: Paul Green, Staatsoper Berlin)
In der Werkstatt des Berliner Schillertheaters, der Ausweichstätte der Staatsoper Unter den Linden während der Renovierung des Opernhauses, wurde das selten gespielte Werk „Lehrstück“ von Paul Hindemith gezeigt, zu dem Bertolt Brecht den Text verfasst hatte und das im Jahr 1929 als Theaterexperiment in Baden-Baden uraufgeführt wurde.
Paul Hindemiths und Bertolt Brechts Lehrstück ist vermutlich der radikalste Versuch, Aufführungstraditionen von Musiktheaterwerken aufzubrechen. Im Rahmen bestimmter Texte und Musiken sind ein freier Umgang mit der Instrumentierung der Musik und die Einfügung von fremden Texten erlaubt. Auch soll die Trennung von Ausführenden und Publikum aufgelöst werden. Im Programmheft der Staatsoper ist als Vorwort ein Artikel des Komponisten abgedruckt, der seine Gedanken zum Werk widerspiegelt: „Das Stück ist nicht zur Verwendung in Theater- und Konzertaufführungen gedacht, bei der einige durch ihre Produktionen eine Mengebelustigen oder erbauen. Das Publikum ist als handelnde Person an der Aufführung beteiligt: es singt die in der Partitur der »Menge« zugewiesenen Sätze. »Einzelne« aus der Menge, die vorher die betreffenden Stellen einstudiert hatten, singen diese unter Leitung eines Dirigenten (oder Vorsängers) erst der Menge vor. Diese wiederholt sodann.“ Nach einigen Vorschlägen für diese Art gemeinsamer Kunstübung heißt es zum Schluss: „Dem die Übung Leitenden und der Gemeinschaft der Ausführenden ist es überlassen, die für ihren Zweck passende Form zu finden.“
Regisseur Michael von zur Mühlen war also gefordert, das Werk unter Mitwirkung der Sänger, der Musiker und des Publikums zu einem singenden, diskutierenden, lehrenden und lernenden Ganzen zu formen. Er verzichtete auf die Tänzerin und die Clowns und stellte in den Raum der Werkstatt, in dem das Publikum wie bei einer Ausspeisung an Tischen saß (Ausstattung: Christoph Ernst), mehrere Bildschirme, auf denen die Texte projiziert wurden und ein kurzer Videofilm zu sehen war. Vor und während der Vorstellung wurden die Zuschauer, aber auch die Mitglieder des Chors und die Schauspieler, die allesamt mitten im Publikum saßen, mit Suppe, Kaffee und Wodka verköstigt.
Den Kern der Handlung im Lehrstück bilden zwei Untersuchungen für einen abgestürzten Flugkapitän, die den ethischen Stand der Menschheit prüfen sollen. Sie kreisen um die Frage, ob der Mensch dem Menschen hilft und verlaufen – den Erwartungen der Zeit gemäß – negativ. Eigennutz und ins Sinnlose gesteigerte Pioniersucht dominieren. Armut wird als die beste Vorbereitung auf das Lebensende propagiert, man wünscht das Einverständnis des Gestürzten mit seinem Schicksal. Der Chor versagt die Hilfe.
Am Schluss erfährt der abgestürzte Flugkapitän, dass nach seinem Ableben niemand auf ihn wartet und wie belanglos sein Tod ist. „Jetzt weiß er: Niemand stirbt, wenn er stirbt. Jetzt hat er seine kleinste Größe erreicht“, singt der Chor am Ende des Stücks.
Die in das Werk eingebauten Texte sprachen viele Probleme der heutigen Gesellschaft an, wie beispielsweise Hartz IV, die Verarmung und Vereinsamung der älteren Generation, die finanziellen Schwierigkeiten der Kommunen, die Sinnhaftigkeit von Opernhäusern, aber auch die – durch ein Video illustrierten –Flüchtlingsdramen, die sich auf dem Meer abspielen.
Sehr gut besetzt waren die beiden Hauptrollen: Den gestürzten Flugkapitän sang der Tenor Reiner Goldberg, der früher zu den bedeutendsten Wagner-Sängern zählte. Es verwunderte nicht, dass er ein paarmal aus großen Arien zitierte, um zu zeigen, mit welchem Duktus manche Passagen zu singen sind. Beklemmend, wie er sich nach den vergeblichen Hilferufen in sein Schicksal fügt. Die zweite Solopartie war dem britischen Bariton Nicholas Isherwood anvertraut, der mit seiner kräftigen und ausdrucksstarken Stimme sehr wortdeutlich seine Gesangspartie zum Besten gab und dazu noch als servierender Koch das Publikum begeisterte. Überdies war er noch Teil des sechsköpfigen Chors, der zum Teil sehr stimmgewaltig agierte.
Gewalt gehörte auch zu den Ausdrucksformen der fünf Schauspieler, die alle symbolhaft als Verletzte mit Bein- oder Armschienen beziehungsweise Halskrausen auftraten. Sie rezitierten sowohl den Brecht-Text wie auch die neuen, hinzugefügten Passagen teils laut, teils schreiend. Besonders Ahmed Shah übertrieb maßlos und verschreckte mit seinen Aktionen so manche Zuschauerin. Dazu passend ein Zitat aus dem Beitrag „Hindemith, Bertolt Brecht und das Theater“ von Andres Briner, der im Programmheft abgedruckt ist: „Auch künstlerische Menschen fürchteten die «Massen» der Menschen, die durch den Untergang des deutschen Kaiserreichs mündig geworden waren. Alma Mahler-Werfel, die Witwe Gustav Mahlers, schildert in ihren Erinnerungen den Ausbruch des Generalstreiks im März 1920 und meinte: <Das Geschrei der Massen ist eine Höllenmusik.>“
Die expressive Partitur von Paul Hindemith, der in den 1920er Jahren zum Fackelträger des musikalischen Expressionismus in Deutschland wurde, gaben die Mitglieder der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von David Robert Coleman mit großem Einsatz wieder, wobei der Dirigent sich des Öfteren auch als „Vorsänger“ im Sinne des Komponisten betätigte und so auch einen Teil des Publikums zum Mitsingen animieren konnte.
Lang anhaltender Applaus am Schluss für alle Mitwirkenden, die diesen Musiktheater-Abend der besonderen Art sogar mit kulinarischen Genüssen zu würzen wussten.
Udo Pacolt, Wien – München
PS: Weitere Aufführungen finden noch am 23. und 24. Juni 2012 statt.