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BERLIN / Staatsoper Unter den Linden: OVERTURE, Choreografien von MARCOS MORAU und CRYSTAL PITE; erste Vorstellung nach der Premiere;

BERLIN / Staatsoper Unter den Linden: OVERTURE, Choreografien von MARCOS MORAU und CRYSTAL PITE; erste Vorstellung nach der Premiere; 30.4.2024

Eisige Feuer und wetterleuchtende Gletscher – Von Vergänglichkeit und widerstrebendem Aufbäumen

„Es gibt keine Vorstellungskraft ohne Bildung, ohne Arbeit und ohne Beziehung zu anderen Sprachen, Bildern, Wahrnehmungen und kulturellen Grenzen jeder Epoche und sozialen Kontext.“ Marina Garcés, Philosophin.

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Ouverture. Foto: Serghei Gherciu

Der Tanz, in ihm gelegener Ausdruck alleine mit dem Körper ist eine dieser Sprachen, die seherisch das erahnen, was über die Wirklichkeit hinaus schon jetzt die Zukunft aufblitzen lässt. Ängste vor einer namenlosen Apokalypse, die Lust an dystopischen Filmen und Artefakten, die täglichen Nachrichten um reale oder Wirtschaftskriege, um Manipulation und verlorenem Diskurs. Der spanische Choreograf Marcos Morau, einer der wenigen ohne Ausbildung zum Tänzer, ist ab der Spielzeit 2023/2024 „artist in residence“ am Staatsballett Berlin. Seine Arbeit für großes Ensemble “Overture“, die den kurzen zweiteiligen Abend einleitet, beschäftigt sich sehr politisch mit aktuellen Fragen nach nötigen Veränderungen in der Gesellschaft, nach Initiativen der jungen Generation, sich die Zukunft anzuverwandeln, und dem Willen zur Transformation statt in Passivität verharrender Untergangserwartung.

Zur Musik von drei Sätzen der „Fünften Symphonie“ von Gustav Mahler sehen wir 36 junge Menschen sich mit einer riesigen, am Boden liegenden schwarzen Säule abmühen. Das Bild mit der antiken Säule assoziiert Morau mit in der Antike geborenen Demokratie, der Zivilisation, mit vorübergehend der Stabilität dienenden gesellschaftlichen Strukturen, die errichtet werden, um sie wieder zu zerstören und von vorne zu beginnen. Solch einen Kreislauf, einen Mythos von Sisyphos, will Morau mit seinem Ballett zeigen.

Der Bewegungskanon des Marcos Morau lässt sich als unorganisch, markant eckig beschreiben. Die Figuren der zusammengedrängt agierenden Gruppe scheinen einer Katastrophe entkommen zu sein. Sie zittern, wie Überlebende eines „Floßes der Medusa“, Schiffbrüchige des Lebens, in mechanischen Verrenkungen ähnlich von den Toten erstandene Zombies oder aus einem bedrohlichen Albtraum erwachte Jünger einer Sekte. In dem Willen nach Freiheit und Selbstbestimmung stellen sie die Säule auf.

Die Bilder und der Ausdruck der Tänzerinnen und Tänzer erwecken Erinnerungen an kollektives Miteinander, durch die übermenschliche Aufgabe zusammengeschweißt. Es herrscht Solidarität. Sodann das berühmte Adagietto, dessen sphärische Jugend- und Todessehnsüchte Luchino Visconti 1971 für die Verfilmung der Thomas-Mann-Novelle „Der Tod in Venedig“ verwendete, das ursprünglich als eine zart intime Liebeserklärung Mahlers an seine Frau Alma sein sollte. Morau lässt hier in einer Art Scherzo, einer Pause vom politischen Drama, die junge Gesellschaft ausgelassen Versteck spielen, sich wie junge Welpen an der Erkundung der auf 16 Säulen angewachsenen Halle und ihrer spielerischen Möglichkeiten der Identitätsfindung freuen. Bis ein sich als stark Begreifender einen Konflikt auslöst. Die Aggression beginnt, das Idyll zu zerstören, aus der homogenen Gruppe bilden sich zwei feindliche Lager. Die Säulen sind weg. Der Weg zu einem Miteinander ist dornig und kulminiert in einem eigentümlich in folkloristischen Kostümen gehüpften River Dance. Am Ende wird die gestürzte Säule wieder hereingebracht, der Zyklus von Werden und Vergehen gesellschaftlicher Kohärenz startet von vorne.

Die Crux an dieser ziemlich naiv gesellschaftliche Brüche skizzierenden, mit Mitteln eines jeglichen Kanons elastischer Beweglichkeit abholden Ausdrucktanzes konkretisierten Märchenerzählung ist, dass es ihr nicht gelingt, zur von Ballett-Hausdirigenten Marius Stravinsky und der Staatskapelle Berlin dramatisch und klangedel servierten Musik Gustav Mahlers einen Bezug herzustellen. Was Interaktion bzw. gegenseitige Deutungssteigerung in der Verschmelzung von Klang und Bild angeht, ist Morau kolossal gescheitert. Ganz im Gegenteil dazu, vermag es die dem Alter ihrer Mitglieder nach jung-schlanke Companie, den technisch und expressiv gigantisch schwierigen Vorgaben der Choreografie mit körperlicher Bravour und einem hundertprozentigen Einsatz, von dem auch das Allerwelts-Konzept mit der Glaubwürdigkeit und Sympathie der Gruppe profitiert, zu begegnen. Das ist es, was am Ende zählt und das Publikum im ausverkauften Saal zu Begeisterungsstürmen anhält. Von den Solisten wären besonders Shaked Heller und Achille De Groeve vor den metaphorischen Vorhang zu bitten.

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Angels-Atlas. Foto: Serghei Gherciu)

Das aufrüttelnde Ereignis des Abends fand nach der Pause statt. Da war „Angels‘ Atlas“ von Crystal Pite angesetzt, ein Stück das am 29.2.2020 im Four Seasons Centre for the Performing Arts; Toronto, uraufgeführt wurde. Diese nun in Berlin gelandete Koproduktion des National Ballett of Canada und des Balletts Zürich verknüpft eine zauberhafte Lichtinstallation mit Chormusik von P. I. Tchaikovsky (Liturgie des Hl. Johannes Chrysostomos Op. 41, Nr. 6), von Morten Lauridsen (O Magnum Mysterium) und elektronischen Klängen Owen Belton, allesamt vom Tonband abgespielt.

Ein faszinierender Eindruck des Abends ist dem Reflective Light Backdrop Concept und Design von Jay Gower Taylor und Tom Visser zu verdanken. In analoger Technik wurde auf Riesenovalen Alufolie aufgezogen, die aus diversen Richtungen und von unterschiedlichen starken Lichtquellen beleuchtet, nach der Manier des Wandels der Jahreszeiten floureszieren. In langsamen Bewegungen scheinen weiße, von innen strahlende Kristalle zu mäandern, sie lösen sich auf, zerfasern und zerrinnen, um wieder Kontur und majestätische Würde zu gewinnen. Dabei darf das Licht einer eigenen intelligenten Logik folgen. Von den Formen her war ich bisweilen an das Gemälde „Eismeer“ Caspar David Friedrich erinnert.

Licht auf und aus dem Schwarz, Materie, der Mensch: In einer hochpoetischen Begegnung von Körpern und immateriellen Leuchtskulpturen findet eine spirituelle Befragung von großen Themen wie die Unergründlichkeit der Schöpfung, die Faszination von Chaos statt. Das Gefühl des Staunens in Anbetracht des unendlichen Universums gewinnt Oberhand. Höchst elegant und in wunderbar einfachen, in die religiöse Erregung eines traumsequenzartigen Gebets gebetteten Ensemble-Tableaus, werden Natur, Ephemeres und deren Schönheit in zeitloser Form kondensiert. Dazwischen vier Solisten-Paare (Sarah Hees-Hochster, Cohen Aitchison-Dugas; Jessica Beardsell, Anthony Tette; Poliona Semionova, Martin ten Kortenaar; Mathhew Knight, Gustavo Chalub), die der Idee von der Vergänglichkeit widerstehen wie sie in unendlich ästhetischem Drehen, geschmeidigem Ineinander und Wegdriften einem „wilden Lebensimpuls“ folgen. Dazu Max Wyman: „Wir haben nichts als den Körper und bald werden wir nicht einmal den Körper haben. Aber es ist diese Körperlichkeit, die so eloquent über die Auswirkungen der Sterblichkeit spricht und gleichzeitig unseren Trotz zum Ausdruck bringt.“

Ein Abend, den man gesehen haben muss.

Fazit: Ballett hat in Berlin Aktualität und löst Zuspruch und Begeisterung in einem spannenden Publikumsmix (wesentlich jünger als in der Oper) aus. Da ist wohl dem neuen Ballettchef Christian Spuck vieles mit goldenem Händchen geglückt. Das Staatsballett Berlin beendete die Saison 2022/23 mit einem Publikumsrekord Über die Hälfte aller Vorstellungen, nämlich insgesamt 45 Abende, waren zu 100% ausverkauft. Mit einer Gesamtauslastung von 92,7% wurde das beste Ergebnis seit Gründung der Compagnie erreicht.

Foto: Serghei Gherciu

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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