Foto: Matthias Baus.
BERLIN / Staatsoper Unter den Linden: FALSTAFF, letzte Aufführung der Serie; 14.4.2020
Zubin Mehta, Ehrendirigent der Staatskapelle Berlin, dirigiert einen denkwürdigen Abend
Da steht er am Ende vor dem Vorhang, klein, zerbrechlich und dennoch agil, vor allem aber glücklich. Der charismatische indische Altmeister Zubin Mehta, seit jeher ein großer Verdi-Interpret, darf sich gemeinsam mit seinem Orchester und Ensemble ganz dem einhelligen Jubel nach einer nicht perfekten, aber tief empfundenen, in der Essenz erstklassigen Vorstellung hingeben. Derzeit Unter den Linden vielbeschäftigt, dirigiert er doch parallel zum Falstaff die Premierenserie des Rosenkavalier, findet Zubin Mehta einen ganz eigenen Zugang zu Verdis letzter Oper. Da hören wir nicht das unerbittlich präzise ablaufende Uhrwerk einer Wunderpartitur (Solti, Toscanini) noch ein technisch bravouröses Virtuosenstück (Maazel), sondern eine bis in die letzte Tiefe ausgeschöpfte Tragikomödie rund um den verlotterten Sir John Falstaff und damit um unser aller Schicksal als am Ende Betrogene.
Wie Mehta die vielen Eigenzitate der Partitur aus Otello und Rigoletto, aber auch aus Wagners Tristan und Isolde nicht nur mit den Noten, sondern auch atmosphärisch mit Sinn auflädt, lässt die Tragödie und das dunkel Drohende unter der rasanten Farce immer wieder hart aufplatzen. Dabei kommen Tempo und kontrapunktische Sophisterei nicht zu kurz, sind aber in einen breiten sinfonischen Fluss eingebettet, der die gefährlichen Stromschnellen bürgerlichen Daseins ebenso wirbeln wie genießerisch das hochprozentige Wasser des Lebens im Rausch dahingleiten lässt. Die Temporegie mit den vielen Ritardandi und teils extremen Rubati ist sicher eigenwillig, fügt sich aber in eine Lesart, die die harmonische Qualität des Stücks auf eine Ebene hebt mit der komplexen Rhythmik und die wiederum einen sinnhaften Bogen schlägt zum Witz und Aberwitz des Textes. Die Schlussfuge gerät zu einer weisen humorvollen Abrechnung über das Dasein generell. Wenn jeder Sterbliche jeden andern verlacht, dann lacht der am besten, der zuletzt lacht – ja dann, wenn dann alle Schurkerei, Untreue, das Witzboldhafte der menschlichen Existenz bis zur Neige ausgekostet ist.
Der für Historienfilme bekannte italienische Regisseur Mario Martone siedelt das Stück gekonnt zwischen Alt 68-er Hippiemanier und Neureichen-Bling Bling an. Die auch von den Bühnenbildern her köstliche Produktion aus 2018 zählt wohl zu den aktuell sehenswertesten überhaupt in der Berliner Opernszene. Wie das gangster- und eifersuchtsgesteuerte Geschehen zwischen Swimmingpool-Penthaus und graffitibesprühter Mummscnschanz-Hausbesetzeromantik hin- und herschwirrt, und unseren Sir John als das Salz in der sonst faden Lebenssuppe einer saturierten selbstzufriedenen lendenlahmen Bürgerschaft zeigt, ist grandios.
Zu diesem Konzept hat die Staatsoper erst jetzt die ideale Besetzung der Titelpartie in Lucio Gallo gefunden. Ähnlich wie Günther Groissböck einen ganz neuen sexy Typ des Ochs von Lerchenau geprägt hat, ist Lucio Gallo als Falstaff ebenso ein glaubhaft viriler Verführer voller Saft und Kraft. Sein Sir John ist kein fetter impotenter Kapaun mit dem Restcharme und faulen Sprachwitz eines herabgekommenen Lebemanns. Lucio Gallo, der auch stimmlich zu den besten Falstaffs gehört (er deckt mit Leichtigkeit und sonorer Pracht die ganze Bandbreite eines hohem Baritons bis zum G ab und verfügt zudem über die Qualitäten eines Basso Cantante) ist, die ich erleben durfte, macht wie ein in die Jahre gekommener Don Giovanni nicht nur die gigantische Eifersucht des Ford glaubhaft, auch das spielerisch erotische Match zwischen ihm und dem Frauentrio Alice Ford, Meg Page und Mrs. Quickly gerät überaus prickelnd. Am Schluss schnappt er sich die recht knackige Quickly und wir können sicher sein, den beiden wird nicht fad werden.
Die vier Frauen des Stücks machen nicht nur am Pool , sondern auch stimmlich beste Figur. Allen voran Barbara Frittoli als fesch herausgeputzte Italienerin mit ebensolch üppig blühenden Sopran, die in Anbetracht ihres nur für seine Geschäfte und Ansehen lebenden Ehemanns erotischen Abenteuern durchaus nicht abgeneigt scheint. Cristina Damian gibt daneben eine köstlich herbe Meg Page, die man sich nicht nur im Schlussbild mit Strapsen und im lackledernen Fetisch Outlook durch den finsteren Wald streifen vorstellen mag. Daniela Barcellona macht aus der Quickly keine komische Alte, sondern eine elegante Mitspielerin im erotischen Reigen. Stimmlich wirft die Kupplerin ihren wunderschönen Mezzo in die Waagschale und gewinnt. Eine spezieller Fall ist Nadine Sierra als Nannetta. Irgendwie erinnert mich ihr individuell, abgedunkelt timbrierter, in der Höhe harter, aber im Keim dramatischer Sopran an die junge Renata Scotto. Das stellt sicher einen Gegensatz zu den mädchenhaft und rund klingenden berühmten Vorgängerinnen in der Rolle von der Moffo bis zur Freni dar. Dennoch gefällt mir ihr perfektes Singen auf Linie und das klangliche Herausstechen aus der oft so neutral klingenden Schar an lyrischen Sopranen unserer Tage.
Alfredo Daza im schlecht sitzenden Anzug gibt den angstgeplagten, mit Geldkoffer und Magnumflasche bewaffneten Ford. Als potentiell Gehörnter könnte einer fast Mitleid mit diesem schablonenhaften Pseudo-Macho haben. Dazas Bariton sitzt gut, die Höhen im Monolog „E sogno“ gelingen vorzüglich. Allerdings müsste er in der Tiefe mehr bieten, um von einer Spitzenleistung sprechen zu können. Franceso Demuro ist mit seinem gut sitzenden hellen Tenor in der Rolle des Fenton eindeutig besser aufgehoben denn in derjenigen des Jason in der Medée. Im Falstaff kann er sich lyrisch in den Liebesduett-Zeilen „Bocca baciata non perde ventura, anzi rinnova come fa la luna“ verströmen und sich von der dominanteren Nannetta in den Pool schubsen lassen. Nass wird dieser Fenton auf jeden Fall werden. Wahrscheinlich wird die getrickste Ehe in 20 Jahren genau so fassadenhaft abgelutscht aussehen wie die der Fords.
Jürgen Sacher stattet den groben, doppelt bestohlenen Dr. Cajus mit scharfem Charaktertenor aus. Stephan Rügamer (Pistola) und Jan Martiník (Bardolfo) agieren wunderbar als Komik-Prolo-Dumpfbacken. Allerdings besteht bei diesen „Glorreichen Drei“ sowohl stilistisch als auch von der italienischen Aussprache her durchaus Optimierungsbedarf.
Der im dritten Akt auftretende Staatsopernchor startet rhythmisch unpräzise, die Finalfuge gelingt allerdings mit Bravour. Die Staatskapelle Berlin hatte unter der Leitung des Zubin Mehta einen glanzvollen Abend. Das Wirkung eines charismatischen, in diesem Fall schon legendären Maestro besteht ja primär darin, dass die Konzentration im Hause am denkbar größten ist. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, das Privileg zu haben, bei einem bedeutenden Opern-Ereignis dabei gewesen zu sein. Das Publikum jedenfalls genoss den Abend (auch dank der deutschsprachigen Übertitel) und dankte mit Riesen-Jubel.
Dr. Ingobert Waltenberger