Berlin, spielzeit’europa: „ZWISCHENFÄLLE“, 09.01.2012
„Zwischenfälle“. Foto: Bernd Uhlig
Wenn das Burgtheater zu Gast ist, sputen sich die Theaterfans. An diesem Abend und drei weiteren eilen sie ins Haus der Berliner Festspiele, zumal sich herumgesprochen hat, wie sehr die Premiere von „Zwischenfälle“ im Februar vorigen Jahres in Wien bejubelt wurde.
Auch der Name Andrea Breth zieht. Viele Jahre war sie an Berliner Häusern mit großem Erfolg tätig, seit 1999 ist sie Hausregisseurin am Burgtheater. Im Vorjahr hat sie mit der Inszenierung von Alban Bergs „Wozzeck“ an der Staatsoper im Schillertheater das Berliner Publikum erneut beeindruckt.
Hier nun widmet sie sich den zahlreichen Zwischen- und Zufällen des angeblich ganz normalen Lebens. Ministücke sind es, Aperçus der drei Autoren Courteline, Cami und Charms, vermischt mit eigenen Ideen. Alles dargeboten mit unaufdringlicher Ironie.
Auf einer Bühne (Martin Zehetgruber) mit hinein gesprengtem Loch entwickeln sich die abstrusen Situationen. 10 Damen und Herren spielen 53 Kurzstücke, jede und jeder rund 30 Rollen, und die wechseln sie in Sekundenschnelle wie die Hemden, d.h. wie die Kostüme von Moidele Bickel.
Wir sehen bei dieser Deutschlandpremiere eine Collage von Klein-Katastrophen, Befindlichkeiten, geheimen Ängsten, von Liebessehnsucht und Lüsternheit, von Egoismus, Einsamkeit und aufgestauten Aggressionen, die sich plötzlich Luft machen.
Wie mit versteckter Kamera spüren alle Mitwirkenden das Kraus-Komische und Absurde in den beinahe alltäglichen Situationen auf. Über diesen „Quatsch“ darf viel gelacht werden, doch manchmal bleibt das Gelächter im Halse stecken. Nichts ist so lustig, wie es auf den ersten Blick scheint.
Wenn eine ausgepolsterte Halbnackte à la Marilyn Monroe trällert und sich windend am Staubsauger reibt, besitzt diese Frau eine ebensolche Tragik wie der Alte, der ein Nostalgie-Radio in Ermangelung eines Besseren ans Herz drückt.
Auch der älteren Frau (Elisabeth Orth), die im Bett hoch über der Bühne schwebt und mit rauchiger Stimme: „Nachts ging das Telefon, das kannst nur Du sein,“ singt, ist nur die Sehnsucht geblieben.
À propos Telefon: In einer anderen Szene telefoniert sie minutenlang mit irgendeiner Person, beantwortet aber die Fragen der Fremden nur mit „yes“, „no“ oder „I don’t know“.
Verständigung wird bei unterschiedlichen Sprachen noch schwieriger, wenn zwei Männer auf eine gewisse Barbara warten. Babylonische Sprachverwirrung im Miniformat, aber Missverständnisse en masse.
Mit solchen Kontaktversuchen hält sich ein anderer gar nicht auf. Detailliert und mit Pistolengeknalle schildert er die Ermordung eines ungebetenen Gastes, eines Freundes! – Furcht erleben die Wartenden auf einem Bahnsteig. Zweimal donnert ein Zug heran, zweimal hält er nicht an. Zuletzt nahen offenbar Flugzeuge. Alle flüchten mit den Koffern in eine Ecke.
Szenen einer Ehe fehlen auch nicht, allerdings eher solche mit Weichzeichner. Da ist der Mann, der eine Taubstumme zur Frau nimmt. Bloß nicht mit der Partnerin sprechen. Den Dialog liefert er sich als Bauchredner selbst.
Oder das Dummchen – im Bett mit dem Gatten hochkant an der Wand. Partout will die Holde nicht glauben, dass England eine Insel ist, doch ihm, dem Helden, gelingt ein Beweis à la Loriot. Nein, das Ei ist hier nicht zu hart, der Po von Corinna Kirchhoff auch nicht, in den Andrea Clausen plötzlich gierig hinein beißt.
Andere wiederum plappern ständig, wie die vermeintlich besorgte Mama, die am Bettgeschehen ihrer Tochter per Telefon partizipieren möchte. „0 wie eklig,“ jammert die junge Braut. Der Blumenstrauß spendet ihr keinen Trost.
Eine hirnrissige Nummer ist die Story vom Rot- , nein vom Grünkäppchen, das den Wolf zur Verzweiflung und um seine Beute bringt. Sie fragt ihn vieles, so wie im Märchen, nur nicht, warum diese „Großmutter“ ein solch entsetzlich großes Maul hat. Da diese Frage fehlt, darf er sie nicht verschlingen. Traurig trollt er sich.
Echt glücklich wird jedoch ein Sechsjähriger, hinreißend vom rundlichen Udo Samels gespielt. Den bösartigen, ständig besoffenen Vater befördert er durch einen auf ihn gelenkten Blitzschlag ins Jenseits. „Mutti, sei glücklich, Vati ist verkohlt,“ berichtet er strahlend. Schwarzer Humor hoch Drei.
Zwei Nummern werden meine Favoriten: die mit überkandidelter Hingabe gestaltete Aufführung atonaler Musik und der verrückte Frühlingsstimmenwalzer, bei dem Markus Meyer mit artistischem Können und super Salti über die gesamte Bühne wirbelt. Auch er ein Ex-Berliner. – Letzte Frage: Sind diese Alltagsentgleisungen nun eher optimistisch oder pessimistisch zu verstehen? „I don’t know“.
Zum Schluss kräftiger, doch relativ kurzer Beifall, auch für die blitzschnellen Bühnenarbeiter. Die großartigen Schauspieler hätten mehr Applaus verdient. Neben den schon genannten sind das Gerrit Jansen, Roland Koch, Hans-Michael Rehberg, Peter Simonischek und Johanna Wokalek. Für die Musik sorgen Otmar Klein, Andreas Radovan, Aaron Wonesch, Raphael Preuschl und Lenny Dickson.
Ursula Wiegand