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BERLIN/ Schaubühne: TARTUFFE von Moliere

26.12.2013 | KRITIKEN, Theater

Berlin/ Schaubühne: „TARTUFFE“ von Molière, 25.12.2013

Der Andrang zu „Tartuffe“ ist selbst zur zweiten Aufführung am ersten Weihnachtsfeiertag enorm. Viele Theaterfans wollen den Wechsel von Starregisseur Michael Thalheimer vom Deutschen Theater zur Schaubühne miterleben. Ist das für ihn und das Haus ein gelungener Auftakt?

Wie man’s nimmt. Jedenfalls ist Thalheimers ständiger Bühnenbildner Olaf Altmann mit von der Partie. Dessen eckiger, gülden glänzender Spielraum mit dem kleinen schwarzen Kreuz erweist sich als ein echter Clou. Später wird sich diese Bühne drehen, der einzige Sessel seitlich an der Wand hängen. Sprich: alles gerät aus den Fugen. Dann schliddern und rutschen die Mitwirkenden von einer schrägen Ebene zur anderen, haben ihr Gleichgewicht völlig verloren und landen schließlich als vom Schicksal Umhergeworfene in einer Ecke.

Das Gleichgewicht im Kopf haben jedoch fast alle schon von Anfang an eingebüßt. Das will uns wohl Thalheimer vor Augen führen. Bis auf Tartuffe, Orgons Gemahlin Elmire und die Zofe Dorine (Judith Engel), die furchtlos dem Hausherrn Orgon (überzeugend Ingo Hülsmann) die Meinung sagt, agieren alle anderen wie Debile bzw. – weiß geschminkt und mit rot umrandeten Augen – wie Zombies.

Sie grimassieren und verrenken sich, stottern und lallen, grinsen und greinen. Gesichter und Gelenke geraten (gekonnt) außer Kontrolle. Durch den raffinierten Frömmler Tartuffe (Lars Eidinger) sind sie aus der Realität gefallen und selbst außer Kontrolle geraten.

Insofern nimmt Thalheimer Molière ganz ernst, dessen bitterböse Komödie wegen ihrer offenkundigen Kritik an den Frömmlern und der Kirche bei der Uraufführung 1664 einen veritablen Theaterskandal auslöste.

Molières Gegner waren die heuchlerischen Geistlichen seiner Zeit, die mit all ihrer Macht die Aufführung verhindern wollten. Molière musste das Stück abschwächen, doch erst die dritte Fassung überlebte dank der Protektion durch König Ludwig XIV. Selbst die dürfte zu ihrer Zeit starker Tobak gewesen sein, ist es wohl in manchen Gesellschaften nach wie vor.

Andererseits ist das Sujet, wie zahlreiche Theater- und Filmadaptionen auch in neuerer Zeit zeigen, insgesamt zeitlos. Den Machtanspruch von Religionen und Raffinierte, die sich das Streben der anderer nach kompatiblen Verhalten schlau zu nutze machen, wird es immer geben.

Doch warum müssen nun hier fast alle Mitwirkenden unaufhörlich wie extrem Verhaltensgestörte oder Untote agieren? Hohe Schauspiel- und Sprechkunst (Deutsch von Wolfgang Wiens) ist das gewiss, und viele geben da ihrem Affen so richtig Zucker. Dennoch nutzt sich dieser Effekt im Laufe der pausenlosen, rd. 105-minüten Aufführung ab. Nicht auszudenken, ginge das solchermaßen über die vollen 5 Akte des Stückes. Doch Thalheimer hat, wie es seine Art ist, Molières Werk radikal komprimiert und vor allem das „Ende gut, alles gut“ eliminiert.

Eigentlich ist es ja kaum zu glauben, wie ein gestandener Bürger wie Orgon auf solch ein ausuferndes Frömmelei-Gehabe hereinfallen kann. Allerdings tritt dieser Tartuffe wie ein zweiter Jesus auf, macht sich dessen Äußeres und seine Äußerungen zueigen. Er zitiert die gesamte Bergpredigt und trägt Jesu Worte als Tätowierung am ganzen Oberkörper.

Das alles blendet Orgon ungemein. Schon lange hat er diesen Heuchler zum Kummer seiner Familie in seinem Haus einquartiert und passt sich mit Zottelhaarperücke sogar seinem Aussehen an (Kostüme: Nehle Balkhausen).

Er ist ihm inzwischen so hörig, dass ihn Tartuffes Reue nach den Avancen gegenüber Ehefrau Elmire mehr überzeugt als die exakten Beobachtungen seines (extrem lamentierenden) Sohnes Damis (Franz Hartwig). Der hat zwar alles mit eigenen Augen gesehen, wird nun aber zum „Dank“ enterbt und davongejagt. Ja, der verblendete Vater setzt noch eins drauf: Tartuffe soll sich nun täglich um seine schöne Frau kümmern.

Elmire (Regine Zimmermann, wie Ingo Hülsmann auch vom Deutschen Theater) behält jedoch die Übersicht und überführt Tartuffe. Sie nutzt dessen offensichtliches Begehren, um den Gatten doch noch von der Schlechtigkeit des Gastes zu überzeugen. Schon der Zofe hat Tartuffe mal schnell unter den Rock gegriffen, doch gegenüber Elmire verliert er alle Hemmungen.

Er bezeichnet sich selbst als Mann von Fleisch und Blut, bemäntelt aber sein Verlangen mit religiösen Sprüchen. Zum Schein geht sie darauf ein, und nun erkennt selbst der verstockte Orgon seinen fatalen Irrtum. Zu spät, hat er zuvor doch seinen ganzen Besitz dem raffinierten Betrüger vermacht. Ach hätte er doch auf den klugen Cleante (Kay Bartholomäus Schulze, ebenfalls in Zottelperücke) gehört!

Nun weinen und wehklagen sie alle, auch Töchterchen Mariane, die er sogar Tartuffe zur Frau geben wollte, obwohl sie bereits mit Valère verlobt war. Luise Wolfram spielt dieses ebenfalls debile, höchst weinerliche Mädchen. Ihren Valère (Tilman Strauß), den sie angeblich sehr liebt, möchte aber in der Art, wie er sich bei Thalheimer geben muss, wohl keine Frau geschenkt haben. Ja, wo die Liebe hinfällt…

Nur Frau Pernelle, Orgons Mutter – hier wie zu Molières Zeiten von einem Mann (Felix Römer) gespielt, bleibt unbelehrbar, stemmt sich an der schrägen Wand minutenlang ab und verkündet ungerührt: „Man muss nicht alles glauben, was man sieht“. Sieh’ an.

Währenddessen hat sich Orgon längst die Langhaar-Perücke vom Kopf gerissen, will Tartuffe aus dem Haus werfen. Denkste. Der besitzt den notariell beglaubigten Schenkungsvertrag, und ein auch aus den Fugen geratener Urs Jucker als Gerichtsvollzieher Monsieur Loyal eröffnet den entsetzten Familienmitgliedern, dass sie am nächsten Morgen wie arme Kirchenmäuse ihr Haus räumen und es Tartuffe überlassen müssen.

Bei Molière erscheint zuletzt noch ein Bote des Königs, enttarnt Tartuffe als bekannten Betrüger und annulliert den Schenkungsvertrag. So milde geht Thalheimer mit Orgon nicht um. Hier muss der mit seiner Familie für soviel Blöd- und Blindheit büßen. Voilà.

Zuletzt starker Beifall für alle Darsteller.

Ursula Wiegand

 

 

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