BERLIN / Radialsystem NICO AND THE NAVIGATORS „QUARTETT ZUM QUADRAT“ – Heiner Müllers ‚Quartett‘ trifft auf Leos Janaceks Streichquartette – PREMIERE; 4.12.2025
Von der peinigenden Lächerlichkeit verwester Begierden

Foto: Dieter Hartwig
Heiner Müller hat 1980 das Zweipersonenstück Quartett nach dem berühmten Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ von Choderlos de Laclos geschrieben. (Wer erinnerte sich nicht an die subtile Verfilmung von Stephen Frears aus dem Jahr 1988 mit Glenn Close, John Malkovich und Michelle Pfeiffer in den Hauptrollen.) Das epische Geschehen soll sich im Zeitraum vor der Französischen Revolution bis zu einem Bunker nach dem dritten Weltkrieg abspielen. Die Marquise de Merteuil und ihr verflossener Geliebter, der Vicomte de Valmont geben sich in dem Stück die flache Kante abgeschliffener Leidenschaftssedimente. Und weil mit und aus beiden nichts mehr zu holen ist und alle Säfte erschöpft und versiegt scheinen, braucht es eine härtere Gangart, konkret weibliche Unschuld zu zerstören, um die verkrüppelten Reste von Leben noch einmal spüren zu können.
Das Produktionsteam um Nicola Hümpel, Oliver Proske, Sergio Morabito und Andreas Hilger kostet im Sinne des Artaud’schen ‚Theaters der Grausamkeit‘ die extrem nihilistische Dämonie des Stücks bis zur Neige aus. Die kleinen Oasen von Humor und brutalem Witz, die zwischendurch das Publikum zum Lachen bringen, sind eher manch unfreiwillig komischer Formulierung des Heiner Müller als einer gekonnt ironisierenden Darstellung zuzuschreiben.
In der ersten Szene – Annedore Kleist darf da noch die Marquise und Martin Clausen der Valmont sein – funktioniert die Brechung der hölzern flachen Rhetorik, die komödiantische Zuspitzung der permanent Sexualität und fäkalisierte Perversionen zelebrierenden Großmäuligkeit bis zur Selbstauslöschung erstaunlich gut.
Aber man will in dieser Inszenierung offenbar alles und scheitert daran krachend. Da genügt es nicht, dass das Publikum den einige Konzentration erfordernden, körpersaftelnden Wortsperrmüllhalden folgt, nein, dazu werden noch ein Streichquartett (das renommierte Kuss Quartett), ein Trompeter (Paul Hübner), ein Schlagzeuger (Lorenzo Riessler) sowie die Ballettduo Martin Buczko und Yui Kawaguchi aufgeboten und fertig ist der durch allzu viele Zutaten verdorbene Theatersalat.
Um der totalen Aufmerksamkeits-Überforderung durch sprachliche, bildliche und musikalische Echokammern, Spiegelkabinette, Betonkammern, drei live Kameras und Müllers Regieanweisungen zu entgehen, hätte man den Abend splitten müssen: In ein zur feingliedrigen, skalpellartig schmerzhaften bis kantilenenseligen Kammermusik Janaceks (Streichquartett Nr. 1 ‚Kreutzer Sonate‘ als Reflexion über Lew Tolstois Novelle über einen Eifersuchtsmord, Streichquartett Nr. 2 ‚Intime Briefe‘ über die Anbetung der viel jüngeren Kamila Stöslovà durch den alternden Komponisten) choreografiertes Psychogramm von unlösbaren Beziehungskisten und in die konzentrierte, ev. durch suspensewirksamen Einsatz von Schlagzeug und Trompete geräuschuntermalte szenische Wiedergabe der nur um sich selbst drehenden Machtspielchen rund um Sexualität bis zum Tod. Eiskaltschnäuzig oder aber völlig klamaukig, jedenfalls ohne ausgekotztes Theaterblut und Dauerrülpser der sterbenden Mme de Tourvel serviert. Denn damit das qui pro quo noch eine ‚vierte‘ Dimension dazu bekommt, spielt nach dem Willen des Autors Merteuil auch den Valmont und die Volange, Valmont wiederum die Mme de Tourvel.
Sprachliche Evokationen erotischer Handlungen und erotisierter Gewalt aus Müllers Lesedrama, vermischt mit Travestieelementen aus Charlies Tante hätte als Konzept für sich funktionieren können, wobei die tapferen Mimen Annedore Kleist und Martin Clausen merklich besser in ihren jeweiligen Rollen als Marquise und Vicomte aufgehoben waren.
Hinzu kommt, dass Heiner Müller und Janacek sich zu nichts fügen, der eine dem anderen keinen Mehrwert bringt, kein tieferes Verständnis abringt. Schade ist es daher um die expressiv grandiose Janacek-Interpretation durch das Kuss Quartett (Jana Kuss, Oliver Wille, William Coleman, Mikayel Hakhnazaryan), deren fragiler Klang gegenüber den elektronisch verstärkten Sounds keine Chance auf Profilierung hat.

Foto: Dieter Hartwig
Schade auch um die ausdruckskräftigen, ästhetisch fluiden Bilder, die das fantastische Duo Martin Buczko und die nicht minder großartige Yui Kawaguchi immer wieder pantomimisch oder tänzerisch virtuos auf die Bühne zauberten, um dann doch nur wieder im Worttsunami soghaft zu verpuffen.
Das Thema von sexualisiertem Machtmissbrauch liebesimpotenter Menschen oder als Mittel kriegerischer Demütigung ist nach wie bestürzend aktuell, der Text von Heiner Müller hat hingegen Jahresringe angelegt und mich persönlich ab der zweiten Hälfte des ersten Teils infolge der gewollt sprachakrobatischen Redundanz gelangweilt. Katharsis funktioniert für mich zudem über Empathie, nicht aber über das exorzistische Durchleben von grell visualisiertem Leid und Gewalt.
Ich schätze das Ensemble Nico and the Navigators überaus wegen der innovativen Mixtur aus Bewegungstheater, Musik, Sprache, Gesang unter Einsatz von live Videos und einer einfallsreichen Lichtregie. Großartige unvergessliche Abende stehen auf der Habenseite. Diesmal hat es für mich vor allem wegen der konzeptuell-dramaturgischen Überfrachtung nicht geklappt.
Dr. Ingobert Waltenberger

