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BERLIN/ Radialsystem: HUMAN REQUIEM – Brahms als „Menschen-Oper“

12.02.2012 | KRITIKEN, Oper

Berlin, Radialsystem: „HUMAN REQUIEM“, Brahms als „Menschen-Oper“, 11.02.2012


Human Requiem im Radialsystem mit dem Rundfunkchor Berlin, Foto Matthias Heyde.

 Ein schlanker Mann – schwarze Hose, weißes Hemd – geht unauffällig durch die Menschenmenge im unbestuhlten Saal. Er läuft auf schwarzen Socken, die anderen tragen Filzüberzieher, um das Parkett im Radialsystem zu schonen.

Ansonsten haben sich alle in winterlich Wärmendes gehüllt, in Pullis und Jacken. Der Herr im weißen Hemd, beinahe die Ausnahme bildend, ist Simon Halsey, der Leiter und Dirigent des Rundfunkchors Berlin.

Die Sängerinnen und Sänger tragen ebenfalls Alltagskleidung. Erst als sie ihre wohl geschulten Stimmen erheben, sind sie zu erkennen. Sie gehen im Saal auf und ab, winden sich  durchs herumstehende oder herumwandernde Publikum, ohne die Konzentration zu verlieren. Ein strahlender Sopran kommt vorbei, gefolgt von Bässen, Tenören und Altistinnen. Am liebsten würde ich gleich mitsingen.

Denn hier agieren Menschen inmitten von Menschen und für die Menschen. Trotz des Parcours durch den Saal klingt dieser schon mehrfach prämierte Chor wie aus einem Guss. Die Damen und Herren singen „Ein Deutsches Requiem“ von Johannes Brahms nach Worten der Heiligen Schrift, op.45.

Und das diesmal nicht mit Orchester, sondern zu vierhändiger Klavierbegleitung, eine Variante von Brahms selbst, die u.a. bei der Aufführung in London benutzt wurde. Im Radialsystem werfen sich Philip Mayers und Phillip Moll, der Brahms’ Fassung überarbeitet hat, engagiert in die Tasten.

Insgesamt führt der Verzicht auf ein Orchester zu einem packenden a-cappella-Klang, der die Stimmen in allen Facetten leuchten lässt und dieses Requiem zu einem besonderen Hörerlebnis werden lässt.   

Das Werk des damals 33jährigen Brahms richtet sich an die Überlebenden, die um ihre Verstorbenen trauern. Er will sie nicht der Verzweiflung überlassen. Zwar hämmert er auch ihnen die Vergänglichkeit beim „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“ in dramatischem b-Moll in Herz und Hirn. Dass er anderes im Sinn hat, zeigt aber schon der Eingangschor „Selig sind, die da Leid tragen “ in  sanftem F-Dur.

Der Protestant Brahms bietet so einen Gegenentwurf zur katholischen Totenmesse mit dem grausigen „Dies irae, dies illa“. Er wollte lieber den Menschen Mut machen. „Was den Text betrifft, will ich bekennen, dass ich recht gern das ‚Deutsch’ fortließe und einfach den ‚Menschen’ setzte,“ schrieb der Komponist an Carl Martin Reinthaler, den Dirigenten der Bremer Uraufführung.

Auch durch die szenische Einrichtung wird Brahms Deutsches Requiem ungemein eindringlich. Diese hat Jochen Sandig  zusammen mit Sasha Waltz & Guests ersonnen und plausibel umgesetzt. Das Radialsystem, eine ehemalige Fabrikhalle, ist genau der richtige Ort, um diese „Verkörperlichung“ des Werkes umzusetzen. Eigentlich erleben wir eine „Menschen-Oper“.

Manche Details prägen sich ein: so wenn eine „Tote“ auf einer Bahre langsam in den Saal getragen wird und sich der Chor singend um sie versammelt. Die junge Frau, die später wie eine Auferstandene jubelt, ist die Sopranistin Marlis Petersen. Auch wird der Flügel von Herren des Chors mit Seilen an eine andere Stelle gezogen. Das sieht aus, als würden sie die Last ihres Lebens mit sich schleppen.

„Herr, lehre mich, dass ein Ende mit mir haben muss,“ bittet dann Konrad Jarnot mit markigem Bariton. Wenn aber Hoffnung aufkeimt, singen die Damen und Herren auf Schaukeln, die von der Decke herabgelassen werden. Das wirkt ebenso schlüssig wie das innig-tröstende, in Es-Dur gehaltene „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth!“

 

Dennoch kündet Brahms von keiner leicht erreichbaren Himmelswelt. Ständig wechseln die Stimmungen der Hinterbliebenen und deren musikalische Umsetzung. Beim Teil VI „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt“ eilen die Sänger schnellen Schrittes durch den Saal, als wollten sie dem Unglück durch die Suche nach besseren Lebensentwürfen entfliehen.

Noch immer im harten c-Moll ertönt dann die Posaune des Jüngsten Gerichts. Zuletzt aber lässt Brahms in lichten Dur-Tonarten die Zuversicht auf Auferstehung und ewiges Heil den Sieg davontragen.  

Gesiegt über mögliche Zweifel hat auch diese Aufführung, diese Einheit von Singen, Bewegen und Schauen. Die Besucher haben sich erkennbar darauf eingelassen und belohnen diese überzeugende Darbietung mit ergriffenem, lang anhaltendem Beifall.

Die folgenden Abende (am 12. und 19. Februar) sind schon länger ausverkauft und zeigen: Diese drei Abende dürfen nicht das Ende sein!

    Ursula Wiegand

 

 

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