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BERLIN/ Radialsystem: „EΞΟΔΟΣ – Exodos“ von Sasha Waltz, Premiere

25.08.2018 | Allgemein, Ballett/Tanz


Copyright: Carolin Saage

Berlin/ Radialsystem: „EΞΟΔΟΣ – Exodos“ von Sasha Waltz, Premiere, 23.08. 2018

Sasha Waltz & Guestsdas ist ein Markenzeichen im modernen Tanzgeschehen. In diesem Jahr begeht die weltbekannte Choreografin mit ihren „Gästen“ ihr 25jähriges Jubiläum und zeigt sich voller Ideen und jugendlicher Frische.

Eine Riesenpackung von Tanzideen, Gesten und fast akrobatischen Leistungen präsentiert sie dem Publikum im Radialsystem. Und dort auch ganz anders als sonst. Ein großer Saal ohne feste Sitze wird schließlich bespielt. Die Besucher stehen, gehen, schauen sich alles an und wissen kaum, wohin sie zuerst blicken und wandern sollen. Endlich mal was anderes!

Ermüdete können auf den an den Saalseiten aufgestellten Bänken Platz nehmen, doch die meisten stehen schnell wieder auf, um sich erneut überraschen und umwirbeln zu lassen. Nach rund zwei Stunden, als das Geschehen zur wilden Techno-Party mutiert, dürfen wir sogar mittanzen. Wunderbar! Aber nicht alle trauen sich das.  

Insgesamt wird das Geschehen und diese Aufführung ein Aufbruch zu neuen Ufern, und genau das steckt hinter dem Titel „Exodos“. Auch Sasha Waltz, ab der nächsten Spielzeit Co-Intendantin vom Staatsballett Berlin, muss sich auf den Weg machen, um die dann andersartigen Herausforderungen zu meistern. 

An diesem letzten superheißen Sommerabend stehen die Protagonisten – die Damen in oft schönen Kleidern (Kostüme: Federico Polucci und Sasha Waltz & Guests) – zunächst in engen Plexiglaskästen und haben oben gerade mal eine Öffnung zum Atmen. Nur ein Drehen der Köpfe sowie Hand-, Arm- und Beinbewegungen sind möglich. Eingesperrte sind sie,  vielleicht aus eigener Mutlosigkeit. Oder Unterjochte.

Sasha Waltz geht es schon länger darum, das Ausbrechen aus solch einem Gefangensein in eine Gemeinschaft darzustellen, wohl wissend und zeigend, dass dieses keine Problemlösung von Dauer ist. Individuum und Gesellschaft – das bleibt ein Kontrast, gerade in der heutigen Zeit. Sasha Waltz mit ihrer Truppe, immer gegenwartsnah, interpretiert das körperlich. Dazu werden Texte in verschiedenen Sprachen gesprochen oder gesungen.


Copyright: Carolin Saage

Das griechische Wort EΞΟΔΟΣ (Exodos) beschreibt im Alten Testament den Auszug der Juden aus der ägyptischen Gefangenschaft und wurde erneut benutzt, als die in Europa verfolgten Juden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Palästina auswanderten. Es kann aber auch schlicht Weggehen beinhalten, also das aus dem Haus zu einer Party zu gehen.

Diese Veränderung des bisherigen Zustands zwecks Freiheitsgewinnung kann in vorsichtiger, fröhlicher oder drastischer Art erfolgen. Etwas Neues zu wagen, birgt stets das Risiko des Scheiterns in sich. Was das für ein schwieriger Balanceakt ist, verdeutlicht ein Paar auf einer am Boden liegenden, aber kippligen Holzlatte.

Eine Fülle von Bildern wird geboten, und es ist offenkundig, mit wie viel persönlicher Begeisterung und Kraftentfaltung sich die 26 Tänzerinnen und Tänzer zu den Geräuschen und der Musik von Soundwalk Collective ganzkörperlich in die Erkundung von Zweisamkeit und Gemeinschaft stürzen. Die kollektive Dynamik ist in diesem Saal so nah wie noch nie und wirkt mitreißend. In diesem Zusammenhang spielt auch das hochaktuelle Thema Migration eine Rolle, wenn z.B. das (Plastik-) Skelett eines toten Kindes gewaschen wird, das womöglich beim Fluchtversuch ums Leben kam.  

Eine wichtige Rolle spielt auf der Bühne (Heike Schuppelius und Sasha Waltz) ein großer Plexiglaskasten, in und auf dem risikofreudig herumgeturnt oder durch ein Loch wieder entstiegen wird. Dicke Taue dienen zum Seilspringen nach Kinderart oder um gefesselte Männer von der Bühne zu ziehen.

„Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldene Brücke“ gibt es ebenfalls, aber auf anstrengende Art. Drei bis 4 Tänzerinnen und Tänzer bilden mit ihren Körpern mehrmals eine solche Brücke, unter der die anderen hindurchgehen oder –kriechen müssen. Auch das Publikum beteiligt sich mit Humor an dieser Übung, die technisch betrachtet eine allgemeine Verlangsamung zur Folge hat.

Wer nicht weiß, dass die Aufführung knapp 3 Stunden dauert, denkt nach der wilden, mit Schreien untermalten Techno-Party, das sei der Rausschmeißer. Mit solch einem Knaller diesen inspirierenden Abend wirkungsvoll zu enden, wäre eigentlich logisch. Doch ohne jede Pause geht es weiter, allerdings in deutlich sanfterer Art.

Dabei zerbröselt das bisher dichte Geschehen, obwohl sich die unermüdlichen Performer weitere Überraschungen einfallen lassen, vor allem bei der Benutzung von Plexiglasplanen. Manches ist witzig, anderes eher beliebig. Vielleicht wollten viele in sympathischem Eifer zu vieles herzeigen.

Generell betrachtet, hätte dieser stille Teil besser vor die wilde Tanzerei gepasst, deren Energie verpufft. Innige Umarmungen sind nun zu sehen, ein Sichfinden und Sichlösen. Auch für einen sehr stillen Schluss hat sich Sasha Waltz entschieden, einen grifftechnisch schwierigen Pas de deux am Boden. Eher ein Ringen als ein spontanes Liebesverlangen.

Sex und Zweisamkeit sind offenbar komplizierte Angelegenheiten, denn danach geht die Frau sogleich vondannen. Bindungsunfähigkeit ist auch ein Zeichen der heutigen Zeit. Dennoch wirkt dieser Schluss nach der vorher zu spürenden Lebensfreude unerwartet pessimistisch. „Utopien halten uns aufrecht“, hatte Sasha Waltz im Juni in einem Tagesspiegel-Interview geäußert. Welche Utopie hat die sich entfernende Tänzerin? Wohin führt sie (und uns) ein Exodos? In die Einsamkeit, in eine neue Partnerschaft oder in eine heftige Party?  Ursula Wiegand

Weitere Aufführungen in Berlin am 25. und 26. August, dann beim  Koproduzenten  Ruhrtriennale vom 15.-20. September.

Ursula Wiegand

 

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