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BERLIN/ Radialsystem : ALLEE DER KOSMONAUTEN von Sasha Waltz

Berlin/ Radialsystem:ALLEE DER KOSMONAUTEN“ von Sasha Waltz, 29.01.2017

Allee der Kosmonauten, Tanzduell mit Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola und Nicola Mascia -® Sebastian Bolesch
Allee der Kosmonauten, Tanzduell mit Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola und Nicola Mascia -® Sebastian Bolesch.

Allee der Kosmonauten – so heißt tatsächlich eine lange Straße in den Bezirken Lichtenberg und Marzahn-Hellerdorf, so benannt 1978, als Ost-Berlin Hauptstadt der DDR war. Eine Ehrung für zwei Raumfahrer, den russischen Fliegerkosmonauten Waleri Bykowski und den deutschen Forschungsastronauten Sigmund Jähn, die zuvor mit dem Raumschiff Sojus31 gemeinsam zur Raumstation Saljut6 geflogen waren.

Diese Allee führt vor allem durch Plattenbausiedlungen, und Sasha Waltz, die 1993 gemeinsam mit Jochen Sandig die Compagnie „Sasha Waltz & Guests“ gegründet hatte, hat sich dort umgeschaut und umgehört, um eine Verbindung vom abgeschotteten Tanz und der Realität herzustellen.

Sowohl meine persönliche Neugier und ein Bedürfnis, andere Lebensverhältnisse kennenzulernen, haben mich dazu bewogen, eine Interviewserie mit Menschen in mir fremden Wohnsituationen zu machen. Diese Erkundung diente als Ausgangspunkt meiner choreografischen Arbeit. Jedoch erhebt letztere nicht den Anspruch eines dokumentarischen Tanztheaters. Wenngleich die Videobilder die Wirklichkeit so darstellen, wie sie ist, und im Stück eigentlich das Bühnenbild ersetzen, ist das Video der einzige wirklich dokumentarische Teil.“

Nach ihren Worten geht es um die „Komponenten der Großstadt: Bewegung und Reizflut, hektische Aktivität in der Außenwelt im Gegensatz zur Wohnung, in die man sich zurückzieht, um dort auf seiner kleinen Insel zu leben. Eine Apathie, Ernüchterung und Leere, eine Beobachtung des Nichts, der Langeweile, des einfachen In-der-Welt-Seins ist zum ersten Male auch in meiner Arbeit erkennbar, beeinflusst durch meine Beobachtungen in den Großbausiedlungen,“ So Sasha Waltz.

Die Uraufführung von „Allee der Kosmonauten“ im Jahr 1996 war gleichzeitig die Eröffnung der Sophiensäle in Berlin-Mitte, und beides ist taufrisch geblieben, das Stück und die Spielstätte. Am Leben der anderen in diesen Plattenbauten, oft in schlechten finanziellen Verhältnissen, hat sich bis heute vielfach wenig verändert.

Nicht nur deswegen wirkt das Stück – entwickelt damals von und mit den Tänzerinnen und Tänzern Nadia Cusimano, Luc Dunberry, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Nicola Mascia, Takako Suzuki und Laurie Young keineswegs veraltet. Es sind der Witz und die Fülle von Einfällen, die diese Choreografie, die Sasha Waltz zum künstlerischen Durchbruch verhalfen, die Gegenwartstauglichkeit bewahrt haben. So noch bis zum 31. Januar zu erleben im Radialsystem.

Die Situationen in diesem von drei Generationen = sechs Menschen bewohnten Zimmer, werden sanft bis derb komisch dargestellt. Gewaltausbrüche auf engem Raum werden rasant getanzt. Die sechs machen das alles mit solchem Drive, solcher Ganzkörperlichkeit und solch hintergründigem Humor, dass das Publikum oft zu lachen beginnt. Vor gut 20 Jahren war das ein total schräges Stück und erstaunt noch immer mit sonderbar verdrehten Schräglagen. 

Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist ein potthässliches, braun-beige gemustertes Sofa (Bühne  Sasha Waltz und Thomas Schenk). Zum weiteren Inventar gehören 2 Bretter und ein Akkordeon. Oben auf einem an die Wand gelehnten Brett sitzt zunächst ein Hektiker im Jogginganzug (Kostüme: Annette Bätz und Sasha Waltz & Guests). Mit flattrigen Slapstick-Bewegungen imitiert er (Luc Dunberry) Zähneputzen und Haare kämmen. Rums fällt das Brett dann um, ohne dass es die anderen zu stören scheint.

Die sind es gewohnt, einander in dieser Enge irgendwie zu ertragen und selbst abzuschalten. Apathisch pennen die Mutter mit ihren Falten schlagenden Strümpfen (Takako Suzuki) und die Kleinste (Zaratiana Randrianantenaina.) auf diesem Sofa, während der Vater (Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola) immer wieder mit verwinkelt steifen Beinen über die Lehne auf die Schlafenden kullert. Einer, der später auch mal Kopf stehend ein selbst komponiertes Lied auf dem Akkordeon spielt.

Ansonsten halten die heißen Rhythmen von Lars Rudolph und Hanno Leichtmann diese gut einstündige Prekär-Collage in Schwung, untermalen auch den brutalen Zugriff von Luc Dunberry auf seine schöne langbeinige Frau (Ageliki Gouvi). Die Verfolgung durchs enge Zimmer endet jedoch in einer Umarmung. Der ist halt so, dieser Mann.

Auch Nicola Mascia rastet aus und liefert sich ein unerwartet wildes Tanzduell mit dem brav gescheitelten Familienvater Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, wobei der Ältere erstaunlicherweise siegt. Andererseits gilt gelegentlich Schöner Wohnen, wenn zwei gehaltene Bretter zum Regal umfunktioniert und mit Büchern oder Vasen bestellt werden.

Irgendwann hat selbst die lethargische Hausfrau die Nase voll und saust mit dem einst modischen Handstaubsauger sie verrückt durch die Stube. Zuletzt stopft sie die Klamotten aus einem Paket – offenbar von einer Wohltätigkeitsorganisation – gleich direkt in den Saugerbeutel. – An skurrilen Ideen fehlt es Sasha Waltz und vermutlich auch dem Dramaturgen Jochen Sandig hierbei wirklich nicht und auch nicht an Mitgefühl, Ironie und am wachen Blick auf familiäre Grausamkeiten.

Schließlich wird auch die Kleine wild, trampelt und schlägt voller Trotz immer wieder krachend gegen die Wand. Zuletzt aber plumpsen sie alle auf das Sofa, ihr Zuhause, während es draußen wohl noch härter zugeht.  

  Ursula Wiegand

Letzte Termine am 30. und 31. Januar im Radialsystem

 

 

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