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BERLIN Pierre Boulez Saal: „LUTHER DANCING WITH THE GODS“ von Robert Wilson

Die

Der Rundfunkchor Berlin als „Bewegungschor“


Berlin/ Pierre Boulez Saal:
„LUTHER DANCING WITH THE GODS“ von Robert Wilson und dem Rundfunkchor Berlin, Premiere, 06.10.2017

In tiefes Dunkel versinkt der Pierre Boulez Saal beim Beginn von „Luther dancing with the gods“. Nur ein Oval am Boden, das dem vom Stararchitekt Frank Gehry geschaffenen ovalen Konzertsaal entspricht, wird durch Lichtstreifen an den Rändern beleuchtet. Darauf zu sehen sind eine schwarz gekleidete Frau und ein Junge, vermutlich Martin Luther als Kind.
Mit sehr prononzierter Stimme spricht die Frau – Lydia Koniordou – Texte, und ich verstehe kein Wort. Dem Publikum bei dieser ausverkauften Premiere geht es wahrscheinlich genau so, denn sie deklamiert auf Griechisch. In der Sprache, aus der Luther 1522 auf der Wartburg die Bibel ins Deutsche übersetzte.
Nur wer vorher das Programmheft studiert hat, weiß, dass es sich bei diesem recht langen Prolog zunächst um einige Sätze aus der Schöpfungsgeschichte handelt, danach um Passagen aus der Apostelgeschichte, die die Bekehrung von Saulus zum Paulus schildern, gefolgt von seinen Briefen an die Römer und Korinther.
Wie Lydia Koniordou das spricht, klingt es – entgegen dem Inhalt – irgendwie drohend. Vielleicht verkörpert sie die Rolle der dominanten Kirche, doch der Junge (Serafin Mishiev) lacht mehrmals darüber, bis er wie vom Blitz getroffen, zusammensackt, um im nächsten Bild jedoch unaufhörlich um das Oval zu rennen. Klein-Luther läuft weiter, der lässt sich nicht unterkriegen.
Solche und ähnlich geheimnisvolle Settings sind typisch für den Allroundkünstler Robert Wilson, verantwortlich für Regie, Bühne und Licht. Der will nach eigenen Worten die Fantasie der Zuschauer und Zuhörer anregen, und dazu ist hier reichlich Gelegenheit. Der Rundfunkchor Berlin, seit 2015/16 unter der Leitung des jungen Niederländers Gijs Lenaars, ist schon lange ein Anwalt für interdisziplinäre Projekte. Nun hat er sich erstmals mit Robert Wilson zusammengetan, um Luthers Leben zum 500. Reformationsjubiläum auf besondere Art zu schildern.
Alle Sängerinnen und Sänger tragen lange schwarze Kutten, wie die Augustinermönche, zu denen zunächst auch Luther gehörte. (Kostüme: Julia von Leliwa). Statt der Kapuzen verstecken sie ihre Haare unter eng anliegenden schwarzen Kappen. Der dunkle Saal suggeriert ein düsteres Kloster.
Umso größer ist in diesem Umfeld nun die Sogwirkung der Musik von Johann Sebastian Bach, mit der die Damen und Herren des Rundfunkchors den Saal fluten. Barfuß schreiten sie hin und her, stellen sich im Freiraum hinter der 5. Parkettreihe auf, gehen auch mal die Stufen zur Bühne hinunter, um die sich dort entwickelnden Bilder singend zu kommentieren,  
Das erste Musikstück stammt allerdings von Knut Nysted, heißt „Immortal Bach“ und ist eine Improvisation auf Bachs Choral „Komm, süßer Tod“.  Dieses Thema gleich an den Anfang zu stellen, überrascht, ist aber historisch belegt. Luther fürchtete sich schon als Kind, als Mönch und noch danach extrem vor Tod und Verdammnis.
Sein Bändchen „ars moriendi“ (die Kunst zu sterben) war wohl eine versuchte Selbsttherapie, fand aber auch viele Leser, setzte die Kirche doch auf einen strafenden Gott. Erst in späteren Jahren entdeckte Luther Gottes Liebe und Gnade, fand darin Trost und predigte diese Erkenntnis den evangelisch gewordenen Christen.
Zuvor schürten Bibelberichte und Schreckensbilder der Maler die allgemeine Furcht. Einige Szenen werden hier – jedoch zurückhaltend – nachgestellt. Die vier Evangelisten, die andeutungsweise mit Steinen auf die Sünder werfen, stammen aus einem Stich von Girolamo da Treviso, ist im Programmheft zu lesen.
Dass die Menschen größte Angst vor dem Jüngsten Gericht hatten, ist verständlich beim Text Apokalypse I. Den spricht Jürgen Holtz als alter Luther. Der 85-jährige legendäre Schauspieler (nicht nur) vom Berliner Ensemble und dem Deutschen Theater, schildert mit Donnerstimme das Horror-Szenario aus der Offenbarung des Johannes, wie bei den Posaunenstößen der Engel jeweils ein Drittel der Erde im Blut ertränkt untergeht. Die gerade erlebten Hurrican-Katastrophen rücken diese Prophezeiungen bis in die Gegenwart. Tröstend dann Bachs Choral „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“,  BWV 226.
Bei Apokalypse II (auch aus der Johannes-Offenbarung) hellt sich das Geschehen auf, nun werden die himmlischen Freuden für die Guten angekündigt und von der Bach-Motette „Jesu, meine Freude“ wunderbar unterstrichen. Hinter mir höre ich rechts die Sängerinnen, links die Sänger, fast alle mit Solistenqualitäten.
Dem fabelhaften, vom Akustik-Spezialisten Yasuhina Toyota geschaffenen Raumklang des Saales ist es zu verdanken, dass die Stimmen transparent bleiben und sich in den Choralpartien auch bündeln. Für die instrumentale Begleitung sorgen Aleke Alpermann,  Violoncello, Mirjam Wittulski, Kontrabass und Arno Schneider, Orgel.
Laut wird es beim Streitgespräch zwischen Luther und Vertretern der Katholischen Kirche. Sie brüllen sich an, er auf Deutsch, die anderen auf Lateinisch. Es sind Sätze aus Luthers Verteidigungsrede vor dem Reichstag zu Worms. Der war damals allerdings ein junger Mann, kein immer noch streitbarer alter Herr wie Jürgen Holtz.
Da hilft nur noch die Motette „Komm, Jesu, komm“ BWV 229, eine der kunstvollsten Schöpfungen Bachs für zwei vierstimmige Chöre und Basso continuo. „Mein Leib ist müde“ wird gesungen. Helfer rollen ein Bett auf die Bühne, und in das legt sich nun der alte Luther, kriecht unter das weiße Laken und stirbt, getröstet von Bachs „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir“, BWV 228.  
Eine „Witwenklage im Frühling“ auf Englisch (von William Carlos Williams) ist auch noch zu vernehmen, gesprochen von Fiona Shaw mit Wackelkopf unter roter Perücke (Haare: Manu Halligan) . Es sind ebenfalls Verse über das Vergehen, passend zum trüben Herbstwetter und gefolgt von Bachs „Du heilige Brunst, süßer Trost“.  Und Bach ist es, der über all’ den hier gezeigten Szenen schwebt und die Bildwelten miteinander verbindet.  
Als Stimmungsaufheller zuletzt „Clapping Music“ von Steve Reich. Nun steht der gesamte Chor unten auf der Bühne und mittendrin dirigiert Gijs Lenaars die teils komplizierten Rhythmen. Das klappt wirklich und erhält sofortigen Beifall. Doch wann hat eigentlich Luther, wie der Titel verspricht, mit den Gottheiten oder Göttern getanzt ? Vielleicht mit seinen Gedanken und Streitgesprächen?
Dass per saldo nichts über Bach geht, hat der Rundfunkchor erneut bewiesen. Dass es schwierig ist, dem Reformator Luther beizukommen, einem Menschen mit Widersprüchen, der zum einen lieben frommen Kinder als Vorbild empfiehlt, andererseits in den Judenhass verfällt, zeigt sich ebenfalls. Wilson-Fans überlassen sich seiner Fantasiewelt. Der Beifall zuletzt ist stark und anhaltend. Weitere Aufführungen gab es am 7., 8. Oktober, es folgen welche am 10., 11. und 12. Oktober. 
Ursula Wiegand 
 

 

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