Schlussapplaus mit allen Mitwirkenden: Stephan Rabold im Auftrag der Berliner Philharmoniker.
Berlin/ Philharmonie: Teodor Currentzis mit VERDIS REQUIEM, 2. Aufführung am 30.11.2019
Zwei schon lange ausverkaufte Abende in der Berliner Philharmonie und die Frage: wollen alle – auch die auf den Stehplätzen –nur einen Paradiesvogel oder einen Klassikrebell erleben, wie Teodor Currentzis lange Zeit und teilweise noch immer genannt wird? War das SWR Symphonieorchester, das ihn zum Chefdirigenten ernannt hat, komplett leichtsinnig? Und wollten sich die Berliner Philharmoniker, die ihn erstmals eingeladen haben, dem grassierenden Currentzis-Hype anschließen?
Das haben sie garantiert nicht nötig und geschah sicherlich in dem Wissen, dass er manches anders machen würde und das Spielen unter seiner Leitung selbst für sie, die Superprofis, eine gewisse Herausforderung werden könnte. Wie dem sei. Diese Zusammenarbeit ist bestens geglückt, so der Eindruck an diesem 2. Abend.
Und das trotz der teils ungewöhnlich straffen Tempi, die Currentzis in Verdis weithin bekanntem Requiem – im Original als „Messa da Requiem“ bezeichnet – wählt. Hinzu kommt eine deutliche klangliche Zuschärfung, wenn Todesangst und das Jüngste Gericht ungeschminkt thematisiert werden.
Dieses Requiem, das Verdi nach dem Tod zweiter hochgeschätzter Künstlerkollegen komponierte, ist halt trotz vieler Arien und üppiger Orchestrierung keine religiös verbrämte große Oper. Verdi schildert trotz aller Melodik das Sterben als den krassesten finalen Einschnitt, der schon vorab große Furcht erzeugt, zumal wenn Menschen an das Jüngste Gericht glauben.
Dass aber auch eine gewisse Hoffnung besteht, kündigt sich bereits im „Sanctus“ an, das Currentzis swingend und ohne falsche Süßlichkeit gestaltet und so überleitet zum ausführlichen „Libera me“, in dem nach weiterem Bangen die Hoffnung auf die ewige Ruhe die Oberhand gewinnt. Currentzis fühlt sich hinein in dieses Schwanken zwischen weiter bestehender Angst und aufkeimender Zuversicht, hat auch mit seinem bestens geschulten musicAeterna Choir und der Sopranistin Zarina Abaeva vorzügliche Partner.
Anfangs, mit den drei anderen Solisten vorne stehend, hat mich die junge Russin nicht ganz überzeugt, bringt nun aber im Chor singend, eine hundertprozentige Leistung. Die Höhen, die Verdi hier den Sängerinnen abverlangt – einst seiner wohl letzten Liebe Teresa Stolz und nun ihren Nachfolgerinnen – sind extrem, doch engelsgleich und ohne jede Schrillheit schwingt sich der Gesang von Zarina Abaeva über den Chor und in den ganzen Saal.
Zuvor schon konnte Annalisa Stroppa mit ihrem warmen Mezzo begeistern. Kurzfristig war die Italienerin für die erkrankte Clémentine Margaine eingesprungen, hat aber adhoc ihren diversen Detail-Partien volle Glaubwürdigkeit ersungen. Currentzis kümmert sich stets sehr um seine Solistinnen und Solisten, unterstützt sie mit präzisen Einsätzen, spricht ihnen oft den Text förmlich vor. Bei Frau Stroppa, auch ein Neuling bei den Berliner Philharmonikern, wäre das nicht nötig gewesen. Sie war selbst voll fokussiert und bestens bei Stimme.
Die zwei Damen und auch die beiden in Berlin bisher unbekannten Herren würden sicherlich viele Hörerinnen und Hörer gerne erneut erleben, sich erneut über den strammen, aber auch zur Lyrik fähigen Tenor von Sergej Romanowsky sowie den Bass von Evgeny Stavinsky freuen, der Kraft und Wärme in sich vereint. Für mich eine sehr angenehme, russisch timbrierte Stimme. Diese beiden Sänger und die Sopranistin hat Currentzis selbst mitgebracht, eine Bereicherung für Berliner Ohren.
Nun ein Blick zurück. Nach dem schließlich fast ersterbend leise vom Chor gesungenen, um die ewige Ruhe bittenden Introitus, nach dem flehenden Kyrie und manch musikalischem Aufschrei mit krass-dunklem Trommelwirbel vor allem beim „Dies irae“, nach perfekten Duetten der beiden Damen und wiederkehrenden höllischen Attacken, faszinierend „gerittem“ von den Berliner Philharmonikern, wird das schon erwähnte „Libera me“ zur Hoffnung weckenden Labsal. Danach fordert Currentzis bewegungslos minutenlang Ruhe, Nachdenken und Respekt vor den Toten ein.
Totale Stille im ganzen Saal, anderes als zwischen den sieben Teilen nun kein einziges Husten. Das Publikum hat vielleicht erstmals verstanden, dass Verdis Requiem keine religiöse Oper ist, sondern tief zum unausweichlichen Ende jedes Menschen vordringt. Danach „Standing Ovations“ und ein außergewöhnlich lang anhaltender Jubel.
Ursula Wiegand